Konflikte als Ursache transnationaler Migration
Der überwiegende Teil gegenwärtiger Migrationsbewegungen hat sein Ursache in gewälttätigen Konflikten – die Ukraine, Syrien, der Irak, Iran, Afghanistan; bei Personen, die sich der Mehrheitsgesellschaft zurechnen, entsteht leicht der Eindruck, internationale Migration betreffe nur „die Anderen“. Eschwerend kommt hinzu, dass eine mehrheitsgesellschaftlich geprägte mediale Berichterstattung in der Regel eine Außenperspektive auf „die“ Migrant*innen einnimmt.
Dieser Beitrag wird als Unterrichtsbeispiel im Rahmen der Virtuellen Ringvorlesung Geographie (=Teil der roadmap-Initiative 2030) vorgestellt: 4. Juli 2023, 16:00-18:00 Uhr c.t. Titel: Kriege und Konflikte – schulpraktische Perspektiven Vortrag: PD Dr. Stefan Applis, StD, Discussant: Prof. Dr. Nicole Raschke; Zoom-Link: https://uni-bonn.zoom.us/j/68292455901?pwd=NkhNTXZvM3hsV2JUenA0bTkrbEhXQT09

Mehrheitsgesellschaft meint, die Bevölkerung, die als normal gekennzeichnet wird. Normal im Sinne von weiß, christlich, heterosexuell, ohne Beeinträchtigung, ohne Armutserfahrungen oder binärgeschlechtlich (entweder Mann oder Frau von Geburt an siehe „Cis“). Oft wird hier auch die gefühlte Mehrheitsgesellschaft gemeint, da sich die deutsche Gesellschaft immer mehr diversifiziert – beispielsweise hat jede*r vierte in Deutschland einen Migrationshintergrund, sodass es sich oft, um eine gewünschte Normalität handelt.
https://www.haw-hamburg.de/fileadmin/Gleichstellung/PDF/Respekt/Mehrheitsgesellschaft_pdf..pdf
In einem von Migration geprägten Europa sollte allerdings schon seit vielen Jahrzehnten von Superdiversität oder postmigrantischer Gesellschaft gesprochen werden. Mit der biografische Methode als Unterrichtsmethode können sich Schüler*innen in einem produktionsorientierten Verfahren auf die Suche nach den eigenen Wurzeln machen, indem die Migrationsgeschichte der eigenen Familie in den Mittelpunkt gerückt wird.
Der Beitrag ist eine verkürzte Variante des folgenden, in der Praxis Geographie erschienen Unterrichtsbeitrags: Stefan Applis & Jan Hofmann (2016). Geographie, Biographie und Migration. Die Biographische Methode. H. 2 (2016); in Erweiterung zu der über die Praxis Geographie verfügbaren Variante wird zusätzlich eine bislang nicht publizierte vollständige Unterrichtseinheit zur Arbeit mit der biografischen Methode zur Verfügung gestellt.
Die Biografische Methode
Als Instrument der Sozialforschung erhebt die biografische Methode über narrative Einzel- oder Gruppeninteriews Daten zu relevanten strukturgebenden Ereignissen im Laufe eines Lebensweges. Sie hat ihren Hintergrund in den stadtsoziologischen Arbeiten der Chicago School:
Die Analyse fragt nach Regelmäßigkeiten und stabilen Handlungsmustern, insbesondere in außergewöhnlichen Situationen oder Krisensituationen und versucht Phänomene zu identifizieren, welche die Lebensgeschichte des jeweiligen Untersuchungsgegenstandes strukturieren.
Lexikon der Geographie: Biographische Methode. Spewktrum-Wissenschaft
In der Geographiedidaktik machte Holger Jahnke erstmals den Vorschlag, Migrationsbiografien zu beforschen; er hat hierzu an der Universität Flensburg einen eigenen Arbeitsbereich „Transnationale Lebenswelten“ eingerichtet:

Im Unterricht kann die biografische Methode starke schüler*innenaktivierende Wirkungen entfalten, da die Aufgabenstellung deren Lebenwirklichkeiten direkt betrifft und dazu anregt, die eigene Familiengeschichte in zeitlicher und räumlicher Dimension zu reflektieren. Die Schüler*innen bringen zusätzlich zu den im Rahmen der Interviews gewonnen Erzählungen der Befragten in der Regel auch Bild- und weiteres Textmaterial mit ein, zudem Arbeiten sie mit Karten und Diagrammen um Lebenwege von Familienmitgliedern nachzuverfolgen. Anschließend wird alles zusammengebracht in einem Produkt, z. B. einem Plakat oder einem aus einem Schuhkarton gebastelten Schaukasten (Wichtiger Hinweis: aus datenschutzrechtlichen Gründen können hier keine Beispiele für Schüler*innenprodukte gezeigt werden).
So können sie eine mehr oder weniger objektive Perspektive auf historische Rahmenbedingungen erlangen, die durch eine subjektive Betrachtungsweise ergänzt wird, welche dadurch entsteht, dass sie den Verlauf des Lebens einer oder mehrerer Familienangehörige im Kontext der historischen Rahmenbedingungen nachvollziehen lernen. Die Gegenüberstellung und Korrelation der beiden Arten von Betrachtungsweisen führt zum Erwerb geographischer Denkstrategien: Sie lernen durch den Vergleich ihres eigenen Lebens mit dem ihrer Eltern und Großeltern Ähnlichkeiten und Unterschiede von zeitlichen und räumlichen Rahmenbedingungen kennen, lernen aber auch die Gemeinsamkeiten und Unterschiede des Phänomens Migration kennen. Sie lernen verschiedene Komponenten, die das Leben ihrer Eltern- und Großelterngeneration beeinflussten, zu reflektieren und interne und externe Zusammenhänge zwischen diesen festzustellen. Anhand der verschiedenen Lebensstationen ihrer Familie kommen sie in Kontakt mit verschiedenen Erfahrungsräumen, die sowohl ortsgebunden als auch ortsungebunden sein können, und die ihnen dazu verhelfen räumliche Orientierungsmuster zu gewinnen.
Stefan Applis & Jan Hofmann (2016). Geographie, Biographie und Migration. Die Biographische Methode. H. 2 (2016).
Unterrichtseinheit (Projektarbeit nach Frey)
Unterrichtseinheit als pdf
Zusatzmaterial zur Arbeit mit Migrationsbiografien (buntstattbraun.de)
Text: Stefan Applis (2023)
Bild: Bild von Freepik
Literaturempfehlung:
Holger Jahnke, Antje Schlottmann & Mirka Dickel (Hrsg.)(2017). Räume visualisieren (=Geographeididaktische Forschungen). Münster.