Ein Konzept für den politischen Geographie- und Ethikunterricht sowie für andere gesellschaftswissenschaftlichen Fächer
Der Beutelsbacher Konsens
Mit der Geschichte der politischen Bildung in Deutschland ist untrennbar die Frage verbunden, wie bewusste oder unbewusste politische Indoktrination durch die Lehrkräfte vermieden werden (vgl. Sander et al. 2017, 23ff.). Auf eine Einladung der Landeszentrale für politische Bildung Baden-Württemberg im Jahr 1976 zu einer Tagung nach Beutelsbach wurde dort der sogenannte „Beutelsbacher Konsens“ formuliert, der eine Einigung über bestimmte Grundprinzipien der politischen Bildung enthält und diese bis heute prägt (im Folgenden zitiert nach Wehling 1977, 179f.):
- Überwältigungsverbot: Es ist nicht erlaubt, den Schüler – mit welchen Mitteln auch immer – im Sinne erwünschter Meinungen zu überrumpeln und damit an der „Gewinnung eines selbständigen Urteils“ zu hindern . Hier genau verläuft nämlich die Grenze zwischen Politischer Bildung und Indoktrination. Indoktrination aber ist unvereinbar mit der Rolle des Lehrers in einer demokratischen Gesellschaft und der – rundum akzeptierten – Zielvorstellung von der Mündigkeit des Schülers.
- Was in Wissenschaft und Politik kontrovers ist, muss auch im Unterricht kontrovers erscheinen: Diese Forderung ist mit der vorgenannten aufs engste verknüpft, denn wenn unterschiedliche Standpunkte unter den Tisch fallen, Optionen unterschlagen werden, Alternativen unerörtert bleiben, ist der Weg zur Indoktrination beschritten. Zu fragen ist, ob der Lehrer nicht sogar eine Korrekturfunktion haben sollte, d. h. ob er nicht solche Standpunkte und Alternativen besonders herausarbeiten muss, die den Schülern (und anderen Teilnehmern politischer Bildungsveranstaltungen) von ihrer jeweiligen politischen und sozialen Herkunft her fremd sind.
- Der Schüler muss in die Lage versetzt werden, eine politische Situation und seine eigene Interessenlage zu analysieren, sowie nach Mitteln und Wegen zu suchen, die vorgefundene politische Lage im Sinne seiner Interessen zu beeinflussen. Eine solche Zielsetzung schließt in sehr starkem Maße die Betonung operationaler Fähigkeiten ein, was eine logische Konsequenz aus den beiden vorgenannten Prinzipien ist. Der in diesem Zusammenhang gelegentlich […] erhobene Vorwurf einer „Rückkehr zur Formalität“, um die eigenen Inhalte nicht korrigieren zu müssen, trifft insofern nicht, als es hier nicht um die Suche nach einem Maximal-, sondern nach einem Minimalkonsens geht.
Reinhard (2022, 30) stellt mit Blick auf die Gewichtung des individuellen Schüler*inneninteresses fest, dass auf das Gemeinwohl hin bezogene Perspektiven vor dem Hintergrund des historischen Erbes des Nationalsozialismus zunächst weniger gewichtet wurden, in der nachfolgenden Diskussion aber größere Bedeutung erhielten; ein Vorschlag für eine Neufassung des dritten Grundsatzes lautetet entsprechend, dass die*der Schüler*in respektive die*der junge Erwachsene „in die Lage versetzt werden [soll], politische Probleme zu analysieren und sich in die Lage der davon Betroffenen hineinversetzen sowie nach Mitteln und Wegen […] suchen [soll], wie er die Problemlösung im Sinne seiner Interessen unter Berücksichtigung der Mitverantwortung für das soziale Ganze beeinflussen kann.“ (Schneider 1996, 201)
Die politische Lehrperson
Wertvoll für die Reflexion der Frage, wie politisch man sich angesichts des Neutralitätsgebotes und der im Beutelsbacher Konsens empfohlenen Leitlinien als Lehrkraft auch in Ethik- und Geographieunterricht verstehen kann, soll oder darf, sind einige Unterscheidungen, die hierzu in der Politikdidaktik vor dem Hintergrund des Kontroversitätsgebotes als Prinzip der politischen Bildung angestellt werden:
- Politisch homogene Lerngruppe: Ist eine Lerngruppe in sich politisch homogen, kommt der Lehrkraft die Aufgabe zu, kognitiv herausfordernde Positionen einzuführen, um zu einer äußeren Differenzierung (=nicht repräsentierte gesellschaftliche Perspektiven) und zu einer inneren Differenzierung (=vertiefende Auseinandersetzung mit eigenen Positionen) beizutragen.
- Politisch polarisierte Lerngruppe: Ist eine Lerngruppe politische polarisiert, kommt der Lehrkraft die Aufgabe der Moderation zu, indem sie die Extreme differenzierende Positionen anbietet und demokratiekonforme Arten der Auseinandersetzung miteinander widerstreitenden Positionen begleitet.
- Politisch heterogene Lerngruppe: Ist eine Lerngruppe heterogen-kontrovers kommen der Lehrkraft ebenso moderierende und differenzierende Aufgaben zu (s.o).
- Politisch uninteressierte Lerngruppe: Ist eine Lerngruppe politisch indifferent oder wenig motiviert, sich mit kontroversen gesellschaftlichen Themen auseinanderzusetzen, kommt der Lehrkraft die Aufgabe zu, dieser kontroverse Positionen anzubieten, die involvieren, u.U. sogar mit der eigenen Meinung wachzurütteln.
In diesem Zusammenhang verweist Reinhard (2022, 2019) auf Diskussionen um die Portale zur Meldung von sogenanntem Fehlverhalten von Lehrkräften durch die Partei Alternative für Deutschland (AfD). Darin wird politische Neutralität so gedeutet, dass Lehrkräfte im Unterricht politischen Äußerungen und der Prüfung politischer Äußerungen generell keinen Raum geben dürften. Reinhard (2019, 15) widerspricht dieser Position, da sie den Unterschied zwischen politischem System und politischer Bildung verkenne:
„Der Sinn dieser Neutralität ist, dass die Bürgerinnen und Bürger als einzelne Staatsbürger sich entscheiden können, also als ‚Wählerinnen und Wähler ihr Urteil in einem freien und offenen Prozess der Meinungsbildung fällen können‘. Wahrlich kein Aufruf zur Neutralität der Wähler und Wählerinnen! Denn wären sie politische Neutra, würden sie entweder nicht zur Wahl gehen oder bei allen Partei en ihr Kreuz setzen und damit ihre Stimme ungültig machen. Wir müssen unterscheiden: die Ebene des politischen Systems, was hier das demokratische System des GG mit der tragenden Funktion politischer Parteien und deren Wettbewerb untereinander bedeutet, und die Ebene persönlicher Entscheidung und Wahl, die sich in dem institutionellen Rahmen abspielt. Neutralität des Bürgers als Bildungsziel taugt für autoritäre Staaten, nicht für die Demokratie. Politische Bildung hat die Aufgabe, den (künftigen) Staatsbürgern zu helfen, ihre eigene Stimme zu finden, zu begründen und auszudrücken (vgl. die Schulgesetze der Länder). ‚Mündigkeit‘ wird von allen Autoren, die für Demokratie-Lernen eintreten, als Ziel geteilt. Der Prozess des Lernens muss den Zugang zum politischen Wettbewerb der Parteien öffnen – und das geht nur über die Kontroverse als Prinzip der Betrachtung und auch der Auseinandersetzung im schulischen Unterricht.“
Text: Stefan Applis (2024)
Bild: Freepik (2024)
Empfohlene Literatur zum Thema
Reinhardt, S. (2004). Demokratie-Kompetenzen. Berlin : BLK 2004, 25 S. – (Beiträge zur Demokratiepädagogik). https://doi.org/10.25656/01:163
Reinhardt, S. (2019). Jagd auf Lehrer statt Beutelsbacher Konsens: Kommentar zum Portal „Neutrale Schulen“ der AfD in Hamburg. GWP – Gesellschaft. Wirtschaft. Politik, 68(1), 13-19. https://doi.org/10.3224/gwp.v68i1.01
Weißeno, G. (2008): Politikkompetenz. Neue Aufgaben für Theorie und Praxis – In: Weißeno, G. (Hrsg.): Politikkompetenz. Was Unterricht zu leisten hat. Bonn : Bundeszentrale für politische Bildung 2008, S. 10-19. https://doi.org/10.25656/01:14824