„DIE Migranten“ gibt es nicht
Der folgende Unterrichtsvorschlag eignet sich für Themenfelder in den Fächern Ethik/Philosophie, Geographie und im Politikunterricht, die migrationsbezogene gesellschaftliche Transformationsprozesse in Deutschland behandeln (Jahrgangsstufen 11-13, alle entsprechende Schularten); vor dem Hintergrund von oft ausgrenzend verwendeten Begrifflichkeiten wie "Zuwanderungsbeschränkungen", "Integration", die nur bei Engagement und gutem Anpassungswillen gelingen kann und somit vorwiegend den Zugewanderten als Leistungsanspruch zugeschrieben wird, bedrohlichen Begriffen wie "Flüchtlingswelle" und abwertenden Begriffen wie "Wirtschaftsflüchtlinge" erscheint es angebracht, differenzierende Perspektiven mit den Schüler*innen zu erarbeiten, die u.a. generationsübergreifende Transformationsleistungen von Zugewanderten in den Blick nehmen.
Die Perspektive des „Postmigrantischen“
Im „Einwanderungsland Deutschland“ werden bereits seit langem Zugehörigkeiten, nationale und/oder ethnische und andere kollektive Identitäten, gesellschaftliche Teilhabe und Chancengerechtigkeit in Politik, Öffentlichkeit und Wissenschaft neu verhandelt. Die Perspektive des „Postmigrantischen“ ordnet dabei entsprechende gesellschaftlichen Prozesse nicht nur zeitlich der Phase nach der Migration zu, sie betont auch, dass Betrachtungsweisen, die Migration als Ausnahmezustand bezeichnen, aufzugeben sind, da Migration für ein Land wie Deutschland längst zum Normalzustand geworden ist. Als „postmigrantisch“ können mit Foroutan (im Folgenden direkt zitiert aus Foroutan 2015) jene Gesellschaften bezeichnet werden, in denen:
- der gesellschaftliche Wandel in eine heterogene Grundstruktur politisch anerkannt worden ist („Deutschland ist ein Einwanderungsland“) – ungeachtet der Tatsache, ob diese Transformation positiv oder negativ bewertet wird,
- Einwanderung und Auswanderung als Phänomene erkannt werden, die das Land massiv prägen und die diskutiert, reguliert und ausgehandelt, aber nicht rückgängig gemacht werden können,
- Strukturen, Institutionen und politische Kulturen nachholend (also postmigrantisch) an die erkannte Migrationsrealität angepasst werden, was mehr Durchlässigkeit und soziale Aufstiege, aber auch Abwehrreaktionen und Verteilungskämpfe zur Folge hat.
Migration sei schon allein deswegen der Normalzustand der deutschen Gesellschaft, da jeder dritte Bürger „als familialen Bezugspunkt“ (Foroutan 2015) einen Migrationshintergund angibt. Dieser Alltag zeigt sich vor allem an einer zunehmenden Heterogenität in deutschen Großstädten, „was sich in Schulen, Kindertagesstätten oder im Stadtbild widerspiegelt. Städte wie Frankfurt am Main hatten bereits 2015 „einen Anteil von Kindern mit Migrationshintergrund unter sechs Jahren von 75,6 Prozent, Augsburg 61,5 Prozent, München 58,4 Prozent und Stuttgart 56,7 Prozent“ (ebd.). Entsprechend wandeln sich die nationalen Identitätsbezüge: „Immer mehr Menschen nehmen für sich in Anspruch, deutsch zu sein, auch wenn ihre Vorfahren nicht immer in Deutschland gelebt haben“ (ebd.).

„Sinus-Migrantenmilieus“ – Große Vielfalt an Lebensstilen unter Migranten
Das Sinus-Institut erhob 2008 erstmals, aufbauend auf dem Sinus-Milieu-Ansatz den Populationsanteil der Migrant*innen. Ein zentraler Befund der Studie war, „dass es in der Migrantenpopulation, ebenso wie in der autochthonen Bevölkerung, eine große Vielfalt von Lebensauffassungen und Lebensweisen gibt […] [und dass die] Menschen mit Migrationshintergrund in Deutschland […] keine besondere und schon gar keine homogene Gruppe [sind]“ (Sinus 2018). Entgegen weit verbreiteter Vorurteile zeige sich eine differenzierte Milieulandschaft. Hierbei konnten 2018 zehn Milieus von Personen mit Zuwanderungsgeschichte (mit jeweils unterschiedlichen Lebenswelten, Wertebildern und Integrationsniveaus identifiziert werden.
Wichtige Ergebnisse der Studie
Im folgenden werden wichtige Ergebnisse der Sinus-Studie zu Menschen mit Zuwandrungsgeschichte kurz zusammengefasst unter engem Bezug auf „Sinus-Migrantenmilieus® 2018: Repräsentativuntersuchung der Lebenswelten von Menschen mit Migrationshintergrund in Deutschland“ (Sinus-Institut 2018: Zusammenfassung der Studie)
- Die Migranten-Milieus unterscheiden sich weniger nach ethnischer Herkunft als nach ihren Wertvorstellungen und Lebensstilen.
- Faktoren wie ethnische Zugehörigkeit, Religion und Zuwanderungsgeschichte beeinflussen die Alltagskultur, aber sie sind nicht milieuprägend und auf Dauer nicht identitätsstiftend.
- Menschen des gleichen Milieus, aber mit unterschiedlichem Migrationshintergrund, verbindet mehr miteinander als mit dem Rest ihrer „Landsleute“ aus anderen Milieus.
- Die Lebenswelten von Menschen mit Zuwadnerungsgeschichte und mehrgenerationell in Deutschland lebenden Menschen konvergieren in der Mitte und bei den modernen Milieus, d.h. autochthone und migrantische Bevölkerung unterscheiden sich immer weniger voneinander.
- Die Bereitschaft, sich kulturell anzupassen ist in weiten Teilen der Migrantenpopulation stark ausgeprägt, gehäuft in den soziokulturell modernen Lebenswelten und den Milieus der Mitte.
- Im modernen Segment der migrantischen Bevölkerung ist ein bikulturelles Selbstbewusstsein die Norm, in der Mitte neigen viele sogar zu einer postintegrativen Perspektive, d.h. sie verstehen sich selbst gar nicht mehr als Migrant/in, sondern als selbstverständliches Mitglied der hiesigen Gesellschaft.
- Segregation tritt überdurchschnittlich häufig in den durch ethnische und religiöse Traditionen geprägten Milieus sowie am unteren sozioökonomischen Rand der Population auf: Stärker als 2008 sind Abgrenzungs- und Rückzugstendenzen zu beobachten wegen Ausgrenzungserfahrungen, geringem Ressourcenzugang, Sprachproblemen, Arbeitslosigkeit, Wohnen in ethnisch homogenen Wohnumfeldern; 26 Prozent der Migranten haben 2018 das Gefühl, von den aktuellen Veränderungen in der Gesellschaft ausgeschlossen zu sein, 19 Prozent fühlen sich manchmal heimatlos und wissen nicht, in welche Kultur sie gehören, und 16 Prozent erleben immer wieder, dass Deutsche sich vor ihnen zurückziehen.
- Die meisten Befragten fühlen sich sowohl mit Deutschland (84 Prozent) als auch mit ihrem Herkunftsland (61 Prozent) eng verbunden. Mehr als zwei Drittel sagen, sie finden es einfach, die deutsche Lebensweise und die Lebensweise ihres Herkunftslandes zusammenzubringen. Die meisten Migranten wollen sich aktiv einfügen, ohne ihre kulturellen Wurzeln zu vergessen.
- Ähnlich wie in der einheimischen Bevölkerung hat auch bei Migranten Religion eine größere Bedeutung in den traditionellen Milieus, eine geringere in den (post)modernen Milieus. Fast neun von zehn Befragten (88 Prozent) finden, dass Religion reine Privatsache sei. Auch sagen insgesamt 73 Prozent der Befragten, dass die Gesetze des Staates für sie wichtiger sind als die Gebote ihrer Religion.
- Das Zusammenleben von Einheimischen und Migranten wird von 66 Prozent der Befragten positiv bewertet. Jeder Dritte der Meinung, es habe sich in den letzten Jahren verschlechtert. Die Wahrnehmung von Diskriminierung bewegt sich insgesamt auf niedrigem Niveau und wird vor allem von unterschichtigen Milieus berichtet. Am häufigsten fühlt man sich bei der Wohnungs- und Arbeitssuche benachteiligt – ein Problem, das auch die autochthone deutsche Bevölkerung betrifft, vor allem in niedriger sozialer Lage.
Unterrichtsmaterial | Aufbereitung für den unterrichtlichen Einsatz
Das Unterrichtsmaterial wird idealerweise eingesetzt, wenn bestimmte soziologische Konzepte wie soziale Gruppe, Rolle, Schicht, Status und insbesondere Milieu bekannt sind; hierzu können u.a. die im Blogbeitrag eingebetteten Filmbeiträge (u.a. unten) verwendet werden.
Die Sinus-Milieus von Menschen mit familiärer Zuwanderungsgeschichte werden in arbeitsteiliger Gruppenarbeit innerhalb von drei Stammgruppen erarbeitet (Arbeitszeit 1-2 Doppelstunden inklusive Präsentation); in Lerngruppen ab 12 Personen wird empfohlen jede Gruppe über eine Kontrollgruppe zu doppeln. Das Arbeitsmaterial führt über drei Aufgaben linear zum Entwurf einer Ergebnispräsentation auf einem Plakat, welches dann in einer oder zwei Präsentationsrunden innerhalb von Expert*innenrunden vorgestellt werden kann.
Um den Zugang zu den sprachlichen Beschreibungen der Milieus zu erleichtern, können Bilder von z.B. Personen in ihrem räumlichen Umfeld, an Arbeitsstätten etc. zusammengestellt werden – aus urheberrechtlichen Gründen kann ein solches Bildmaterial leider hier nicht zur Verfügung gestellt werden. Als Vorbild für die Zusammenstellung eines solchen Materials kann das folgenden Lern-Video herangezogen werden, welches sich auch zur Einführung des Ansatzes für die Lerngruppe eignet:
Text: Stefan Applis (2024)
Abbildungen: Sinus-Migrantenmilieus (2018)