Subjektzentrierte Zugänge und leistungsdifferenzierte Umsetzungsvarianten
Gesellschaftliche und politische Diskurse über sozioökonomische Phänomene und Prozesse, wie etwa über den Themenkomplex Flucht – Flüchtlinge – Asyl, verlaufen im Allgemeinen auf einer abstrahierten und anonymisierten Ebene. Auch im Geographie- und Wirtschaftskunde-Unterricht sind verallgemeinernde, deduktive Darstellungen häufig anzutreffen. In diesem Beitrag wird für einen Perspektivenwechsel plädiert, der zum Beispiel mit der Methode „Lebensliniendiagramm“ eingeleitet werden kann. Schüler/innen versetzen sich in die Lebenslage eines Menschen, in diesem Fallbeispiel eines minderjährigen syrischen Flüchtlings, bewerten sein Lebensgefühl und entwerfen ggf. im Anschluss mit Hilfe der Szenariotechnik Entwicklungsperspektiven für diesen Menschen. Dieser subjektzentrierte Zugang eröffnet die Chance auf eine andere Sichtweise und auf eine größere Sensibilisierung für das Schicksal und die Herausforderung anderer Menschen – und nicht zuletzt auf ein kritisches Überdenken des eigenen Standpunkts.
1. Induktive versus deduktive Zugänge
Immer wieder tauchen Medienberichte über sozioökonomische und politische Ereignisse auf, die unangemessene Naturgesetzlichkeiten unterstellen, wie etwa jene Schlagzeile: „Neue Flüchtlingswelle rollt auf Europa zu“ (Kronen Zeitung vom 16.05.2014). Diese Aussage enthält, wie etwa die Bezeichnung „Flüchtlingsstrom“ (z. B. bild.tv vom 14.09.2015), eine anonymisierende Abstrahierung menschlicher Schickale. Die Begriffe „Welle“ und „Strom“ entstammen Naturbeschreibungen, stellen somit Naturalisierungen dar und erlangen in den Beschreibungen eigene Handlungsfähigkeit, weswegen hier von Reifikationen gesprochen werden kann. Zudem ist der mediale Diskurs mit teilweise kühler Distanziertheit durch Verwendung inadäquater Begriffe, wie etwa „Flüchtlings-Explosion“ (z. B. ShortNews vom 13.04.2014), geprägt. Diese weit verbreitete Semantik trägt zur Stereotypenbildung bei und ist als problematisch einzustufen, denn es geht um Menschen sowie deren Leben und Schicksal, nicht um unabwendbare Katastrophen. Eine derartige mediale Berichterstattung hat eines gemeinsam: In den Diskurs werden Metaphern eingebracht, die Menschen oder gar menschliche Schicksale ausblenden und außer Acht lassen. Dies führt neben den fast kontinuierlich gemeldeten Zahlen über auf der Flucht verunglückte und gestorbene Schutzsuchende zu einer Abstumpfung bei Menschen in Österreich und generell im globalen Norden. Deren Blickwinkel entspricht externen Beobachter/innen, die auf Ereignisse, wie etwa Kriegsereignisse, blicken, welche in Form von Reiz und Reaktion wiederum auf anonyme Menschenmassen wirken (siehe Abb. 1).

In dieser Perspektive befinden sich Schüler/innen, wenn zum Beispiel Fakten, Abläufe und mit vielen Zahlen garnierte Ereignisabfolgen zum Syrienkrieg und dessen Auswirkungen auf Menschen inklusive der Flucht im gesellschaftswissenschaftlichen Unterricht „behandelt“ werden.Im politischen Diskurs erfolgt eine Zuspitzung dieser Vorgehensweise, indem rechtspopulistische Politiker/innen die Themen Flucht, Flüchtlinge und Asyl für Wahlkämpfe instrumentalisieren oder zur Erlangung des vielzitierten politischen Kleingelds missbrauchen. Parallel dazu laufen in den sozialen Medien sogenannte „Flüchtlingsdebatten“, die je nach gesellschaftlichen oder politischen Ereignissen stärker positiv oder negativ verlaufen (siehe entsprechende Grafiken z. B. in Der Standard, Ausg. v. 3. / 4.09.2016, 2). Schließlich erfolgt eine Umkehrung der Wahrnehmung der Bedrohung: Es wird nicht mehr wahrgenommen, dass Flüchtlinge vor Bedrohung und Krieg flüchten, sondern dass „wir“ und unsere Ruhe, unser Wohlstand, unser Abendland etc. von den „Wellen“, „Anstürmen“ und „Belagerungen“ der Flüchtlinge bedroht sind. Die Linguistin Ruth Wodak verweist in diesem Kontext auf die Sprache als mächtiges Instrument mit einer „dehumanisierenden Wirkung“, die zu einer „Verdrehung der Tatsachen“ führen kann (Tiefenthaler 2015; vgl. insbes. Wodak 2016).
Einen anderen Blickwinkel nehmen Schüler*innen ein, wenn sie zum Beispiel chronologisch geordnete Ereignisse aus dem Leben eines einzelnen betroffenen Menschen analysieren und mögliche Folgen auf dessen Lebenslage einschätzen. Dieses positive oder negative Lebensgefühl der / des Betroffenen in ihrer / seiner jeweiligen Situation kann dann in ein sogenanntes Lebensliniendiagramm eingezeichnet und grafisch als Kurve veranschaulicht werden. Dieses Diagramm ist als Raster vorgefertigt und verfügt über eine Zeitachse (x-Achse), auf der entweder Jahre oder Zahlen für durchnummerierte Lebenssituationen eingetragen sind. Die y-Achse wird von einer Plus-Minus-Skala gebildet. Somit kann von der / vom Lernenden je nach Stärke der vermuteten positiven oder negativen Ausprägung für jede Situation mittels einer Markierung im Diagramm eingetragen und abschließend zu einer Kurve verbunden werden (Schuler et al. 2013, 70 f.). Der Blickwinkel der Lernenden auf „die Sache“ ist nun eine völlig andere. Sie vollziehen vorgegebene, in deduktiver Weise aufbereitete Lerninhalte nun nicht mehr nur nach, sondern versuchen sich in die Lebenssituation eines ausgewählten betroffenen Menschen, der als pars pro toto für eine mehr oder weniger große Gruppe steht, hineinzuversetzen. Dieser Mensch reagiert nicht nur auf die externen Reize von Ereignissen, sondern versucht als in Machtgeflechte eingebettete/r Akteur/in, ihre / seine Lebenslage – meist zusammen mit anderen Menschen – (mit)zugestalten. Zentral ist hierbei die Analyse der Bedeutung von Ereignissen und deren Wechselwirkung mit den betroffenen Menschen im Hinblick auf das Lebensgefühl dieser Menschen, und zwar aus deren Perspektive. Diese subjektzentrierte Perspektive muss auch die/der externe Beobachter/in (= Schüler/in) einnehmen. Somit stellt dies eine Form des Perspektivenwechsels nach der Art der Beobachtung dar (Rhode-Jüchtern 2015/2012, 267), womit Veränderungen der Darstellung des Perspektivengeflechts verbundenen sind (siehe Abb. 2). Subjektzentrierungen wie Einzelschicksale haben in den Medien nur selten Platz, wie etwa die Olympia-Teilnahme der aus Syrien geflohenen 18-jährigen Schwimmerin Yusra Mardini, die nach dem Bewerb in einem Interview über andere gefl ohene Teilnehmerinnen und sich sagte: „Wir repräsentieren die Hoffnung. Wir repräsentieren 60 Millionen Menschen weltweit und wollen zeigen, dass wir etwas leisten und erreichen können – nicht nur im Sport“ (Der Standard, Ausg. v. 08.08.2016, 15). Ein anderes Fallbeispiel wurde am 27.08.2016 publiziert, ein Jahr nach dem Auffinden von 71 toten Flüchtlingen in einem Kühl-LKW auf der A 4. In dem Zeitungsbeitrag wurde ausführlich von einem Familienvater, der in dem LKW erstickt war, seiner Frau und seinen beiden Kindern sowie von den dramatisch veränderten Lebensumständen berichtet. Die Witwe kam zu Wort und erzählte von ihrem Leben in Syrien und Österreich (Die Presse, Ausg. v. 27.08.2016, 7).

Auch wenn mit dieser Vorgangsweise deutliche Bezüge zu den Lebenswelten anderer Menschen hergestellt, Bewertungen eingefordert und Argumentationsfähigkeiten gefördert werden, sind und bleiben die Schüler/innen letztlich externe Beobachter/innen aus einer anderen, aber subjektspezifischen Perspektive. Das stellt eine Grenze dieser Methode dar, denn „Lebenswelten sind letztlich wirklich nur von innen zu beschreiben“ (Padberg & Schraven 2015, 47). Dies gilt auch für ähnliche Methoden wie etwa Mystery, bei denen auf prinzipiell vergleichbare Weise Lebenswelten und Kontexte aus der Perspektive eines Menschen, zum Beispiel eines afrikanischen Arbeiters auf einer italienischen Orangenplantage (Fridrich 2015, 57 ff .), analysiert und bearbeitet werden.
Dennoch werden mit der Methode des Lebensliniendiagramms (siehe Abb. 3) Einfühlungsvermögen, Empathie und schließlich Sensibilität für die Lebenslage anderer Menschen, zum Beispiel Schutzsuchender, gefördert; dies stellt einen radikal anderen Zugang dar, als im Unterricht über „Flüchtlingsströme“ zu diskutieren. Denn immerhin geht es nicht um „Ströme“, „Wellen“ oder sonstige Objekte aus der leblosen Welt, sondern um Menschen mit Menschenwürde. Menschen und ihre Weltsichten, Ängste und Hoffnungen werden damit als bedeutungsvoll anerkannt. Resümierend formuliert: „Perspektive heißt soviel wie: aus einem bestimmten Winkel eine Sache durchschauen – eine Sache an sich wird so zu einer Sache für sich. Das ist eine doppelte Denkoperation, die zum einen die eigene Sicht definiert und daneben andere Blickwinkel als existent und bedeutungstragend respektiert“ (Rhode-Jüchtern 2015/1996, 298).
Das Prinzip des Perspektivenwechsels ist weder neu, noch an die Methode des Lebensliniendiagramms gebunden. Verstörende und damit zu Reflexionen anregende Zugänge wurden bereits vor vielen Jahren etwa mit Filmen geschaffen. Es sei beispielsweise an den 1992 im ORF ausgestrahlten satirischen Film „Das Fest des Huhnes“ (Wippersberg 1992) erinnert, in dem die „Gebräuche“ der oberösterreichischen „Ur-einwohner/innen“ von afrikanischen Forschungsreisenden in ethnologischen Studien erforscht werden und mit „umgedrehten“, den österreichischen Zuseher/innen absurd erscheinenden Interpretationen versehen werden, die eben den tiefsinnigen Witz dieses fiktiven, parodierenden „Dokumentarfilms“ ausmachen. […]
Aus der jüngsten Vergangenheit kann exemplarisch auf die Dokumentation des ORF vom 10.8.2016 im Rahmen von Weltjournal+ „Busreise – Chinesen auf Europatour“ verwiesen werden, im Rahmen derer chinesische Tourist/innen innerhalb von zehn Tagen sechs europäische Staaten bereisen und aus ihrer Per-spektive entspringende subjektive Theorien äußern, die das Gesehene und Erlebte erklären, was für mitteleuropäische Zuseher/innen wiederum belustigend wirkt und damit prinzipiell einen fesselnden Ansatzpunkt für eine Bearbeitung im Unterricht eröffnen würde.
2. Positive versus negative künftige Entwicklungen
Eine derartige subjektzentrierte Zugangsweise bietet sich als rund zweistündiger induktiver Start in eine mehrere Stunden umfassende Unterrichtsreihe an (siehe unten.). Besonders spannend erscheint ein Perspektivenwechsel auch in einem anderen Bereich zu sein. Wird doch der mediale Diskurs oft dahinge-hend geführt, wie es mit „den Flüchtlingsströmen“ weiterginge, die vor den Mauern der Festung Euro-pas lauern würden, so wird hier in Bezug auf künftige Entwicklungen wieder eine subjektzentrierte Perspek-tive eingeschlagen, in dem die zentrale Frage gestellt wird, wie es denn mit den betroff enen Menschen, also einem ausgewählten Schutzsuchenden zum Beispiel in Österreich weitergehen könnte.
Im Unterrichtskontext können leistungsstärkere Schüler/innen bzw. Klassen unmittelbar an das Lebensliniendiagramm mögliche Entwicklungswege mittels einer modifizierten Variante der Szenariotechnik (z. B. Reich o.J., 4 ff .; Retzmann 2011, 182 ff .) anschließen. Bei dieser geht es darum, Einflussfaktoren und -bereiche auf die Lebenssituation von Subjekten zu identifizieren und die Bedeutung für deren Lebenslagen herauszuarbeiten. Anschließend soll auf dieser Basis ein begründetes positives und ein negatives Extremszenario sowie außerdem ein wahrscheinliches Trendszenario zum Beispiel für ein/e Asylwerber/in in Österreich erarbeitet und beschrieben werden. Dabei werden – unter Berücksichtigung von aktuel-len Einfl ussnahmen und Interessen unterschiedlicher gesellschaftlicher Gruppen – mögliche Zukunftsbilder entwickelt, wodurch an das vorliegende Lebenslini-endiagramm gleichsam ein trichterförmiges Gebilde (vgl. auch Reich o.J., 8) angeschlossen werden kann (siehe Abb. 4). Je weiter eine künftige Entwicklung von der Gegenwart entfernt liegt, desto vager werden die möglichen zu erwartenden Situationen, weswegen zwischen sehr positiven oder sehr negativen Situationen viele Zustände denkbar sind.
Auch wenn Geographie und Wirtschaftskunde ein gegenwarts- und zukunftsbezogener Unterrichtsgegenstand ist, so ist es in diesem Fall aufgrund der obigen Ausführungen dennoch sinnvoll, die thematisch fokussierte Biographie eines Menschen nachzuvollziehen, um sich schließlich die gegenwärtige Situation vor Augen zu halten und danach Zukunftsszenarien zu entwickeln. In der Abb. 4 wurden aus Gründen der Verständlichkeit daher mit den Beschriftungen unterhalb der geschwungenen Klammern didaktische Zusatzinformationen geboten, die in entsprechenden Diagrammen in der Arbeit mit den Schüler/innen nicht vorkommen.

Blick ins Unterrichtsmaterial (s. pdf des vollständigen Beitrages)


Der vollständige Beitrag erschien 2017 im Open-Access in GW-Unterricht: GW-UNTERRICHT 145 (1/2017), 28–4128 www.gw-unterricht.at – ISSN: 2077-1517 Druckversion – ISSN: 2414-4169 Onlineversion – https://dx.doi.org/10.1553/gw-unterricht145s28
Christian Fridrich ist Professor an der Pädagogischen Hochschule Wien.
Text: Christian Fridrich (2017)
Abbildungen (Christian Fridrich (2017)
Literatur (s. pdf des vollständigen Beitrages)