Bis zu 1 000 000 Papierlose leben in Deutschland ohne legalen Zugang zum Wohnungs- und Arbeitsmarkt, zum Gesundheits- und Bildungswesen. Bau- und Reinigungsfirmen profitieren von niedrigsten Löhnen und dem Wegfall von Sozialleistungen. Auch in der Gastronomie, der privaten Pflege und im Sexgewerbe finden Illegalisierte Arbeit. Diese unter uns lebenden Menschen sollten Thema im Unterricht werden, da Ihre Lebenslagen Aufmerksamkeit verlangen und der Akt der Illegalisierung vor dem Hintergrund der Menschenrechte fragwürdig ist. Der Beitrag von Stefan Padberg erschien 2012 in der GW-UNTERRICHT 128, 2012, 18–27; er hat gleichwohl nichts an Aktualität verloren - das Unterrichtsmaterial kann mit wenig Anpassungen verwendet werden für den Einsatz ab der Mittelstufe.
1 Überblick zum Thema
„Kein Mensch ist illegal“ – so sieht es jedenfalls die gleichnamige Initiative. Nationalstaatliche Gesetzgeber und die EU sind anderer Ansicht. Es gibt Gesetze, die Menschen auf bestimmten Teilen der Erdoberfläche unter bestimmten Bedingungen das Aufenthaltsrecht negieren. Woraus sich diese Gesetze spießen, darf durchaus hinterfragt werden. Etwa heißt es in Artikel 2 der Allgemeinen Erklärung der Menschenrechte: „Jeder hat Anspruch auf alle in dieser Erklärung verkündeten Rechte und Freiheiten, ohne irgendeinen Unterschied, etwa nach (…) nationaler (…) Herkunft (…). Des Weiteren darf kein Unterschied gemacht werden auf Grund der politischen, rechtlichen oder internationalen Stellung des Landes oder Gebietes, dem eine Person angehört (…). Schnell wird deutlich, dass diese Erklärung keine verbindliche Rechtsquelle des Völkerrechts ist, sonst wäre so mancher Zustand in unseren Gesellschaften vor Gericht zu bringen. Der Autor dieser Zeilen zieht es vor, von Illegalisierten oder Papierlosen zu sprechen statt von „Illegalen“, da ersteres den Zustand der adressierten Menschen exakt beschreibt, während die Rede von den „Illegalen“ nur vor dem Hintergrund einer paradigmatischen Akzeptanz des Vorgangs des Illegalisierens Sinn macht.
Die Heinrich-Böll-Stiftung schätzt die Zahl der Illegalisierten in Deutschland auf 500 000 bis 1 Mio., allein in Berlin auf etwa 100 000. Die Einreise erfolgt auf unterschiedlichen Wegen, vielfach als sogenannte „Visa-overstayers“, d. h. dass die Einreise legal erfolgt, die im Visum zugelassene Aufenthaltsdauer aber überschritten wird. Einreise ohne Papiere oder mit gefälschten Papieren ist vergleichsweise seltener. Die Konflikte bei der Einreise sind in der EU durch das Abkommen von Schengen an die EU-Außengrenzen verlagert, besonders die Ost- und Südgrenze der Union sind diesbezüglich Hotspots. Weltweit wird die Zahl der beim Versuch der illegalisierten Einreise jährlich zu Tode kommenden Menschen von NGOs auf 4000–5000 geschätzt (Rosière 2012). Deren Wohnsituation ist prekär, da sie auf legalem Wege keinen Wohnraum anmieten können und keinerlei Rechtsschutz genießen. Zimmer werden durch „legale“ Freunde oder Bekannte angemietet, es wird zur Unterkunft gewohnt, in Abbruchhäusern, Wohnwagen oder Massenunterkünften, z. B. bereitgestellt durch Bauunternehmer. Aus Angst vor Entdeckung wechseln viele Illegalisierte häufig den Aufenthaltsort. „Immer der Arbeit nach“ – heißt eine Ausgabe der „le monde diplomatique“ zur Migration. Dies gilt auch für Illegalisierte. Sie kommen, weil Sie über Netzwerke erfahren haben, dass es für sie potenziell zugängliche Arbeitsplätze gibt. In Deutschland ist dies im Wesentlichen im Baugewerbe, in der Gastronomie, im Reinigungsgewerbe, zunehmend in der privaten Pflege und im Sexgewerbe der Fall. Arbeitgeber machen sich strafbar, kalkulieren dies jedoch zum eigenen Nutzen ein. Die Illegalisierten genießen keinerlei Arbeitsrechte, auch keinen Kündigungsschutz, de facto nicht einmal das Recht auf Bezahlung. Theoretisch könnten sie nicht gezahlte Löhne zwar einklagen, faktisch würden sie durch das Beschreiten des Rechtswegs jedoch mit hoher Wahrscheinlichkeit abgeschoben werden. Da die Mitgliedschaft in einer Krankenkasse einen legalen Aufenthaltsstatus voraussetzt, sind Illegalisierte auch vom Gesundheitssystem ausgeschlossen. In einzelnen Städten gibt es Netzwerke von Ärztinnen und Ärzten, die kostenfrei behandeln und Medikamente auf Spendenbasis sammeln und weitergeben. Der Zugang zu Bildung ist ebenfalls äußerst schwierig. Zwar garantiert die auch von Deutschland unterzeichnete UNO-Kinderrechtskonvention allen Kindern bis 16 den Zugang zur Schule, de facto ist aber unklar, inwiefern die Schulen bei Verdacht an die Kommune melden, dass sie glauben, eine Familie sei „illegal“. So kommt es häufig zu dem Phänomen, das Sigrid Becker-Wirtz mit „Statt im Kindergarten vor der Glotze“ beschreibt. Es braucht nicht extra betont werden, dass ein Leben unter solchen Umständen weder freiwillig noch ohne gute Gründe gewählt wird, noch ohne starke soziale und psychische Folgen bleibt.Warum also soll ein so schweres Thema mit allen seinen bedrückenden Aspekten Inhalt von Unterricht werden? Unsere Schulen sind in doppelter Hinsicht betroffen: Zum einen sitzen die papierlosen Kinder und Jugendlichen mit auf der Schulbank – oder eben nicht. Jedenfalls leben sie unter uns. Zum anderen ist der Akt der Illegalisierung durch unsere Gesellschaften respektive deren gesetzgebende Gewalten mit all seinen Konsequenzen zu hinterfragen. Dazu gehört auch der offensichtliche Nutzen, den die angesprochenen Wirtschaftssektoren aus den geringen Lohnkosten und den nicht gezahlten Sozialleistungen und Rentenbeiträgen ziehen. Johannes Rau sprach in einer Studie zur Schule einst davon, dass es neben dem Unterrichten, Beraten, Beurteilen und Verwalten auch Aufgabe von Lehrpersonen sei, zu innovieren. Dies sollte sich auch auf das Weiterdenken und Hinterfragen von fragwürdigen Situationen beziehen, unter denen viele Menschen leiden. Es braucht wohl Innovation, um die beschriebene politisch selbstgemachte Situation zu verändern. Dazu ist der Erwerb von Wissen über die Gegebenheiten hilfreich. Dieses Wissen Schülerinnen und Schülern über Empathie zugänglich zu machen, ist Anliegen des vorliegenden Unterrichtsvorschlags. Er basiert auf Begrifflichkeiten einer „Kritischen Geographiedidaktik“ mit themenzentrierter Interaktion (TZI), wie ich sie in GW-Unterricht 127 skizzieren durfte. An die Stelle des Kompetenzbegriffs stelle ich jenen des Anliegens. Gemeint ist das Anliegen der Lehrperson, dass diese nach der Analyse des Inhaltes und mit Blick auf die Lerngruppe für sich als Lehranliegen formuliert. Es geht darum, mir als Lehrperson selber klar zu machen, was ich in der Unterrichtsstunde ermöglichen will, wozu ich auffordere, was ich fördern möchte. Aus diesen Überlegungen folgert die konkrete schülerinnen- und schülerorientierte Planung der Stunde mit den entsprechenden Sozialformen, Unterrichtsmethoden und Materialien. Die Auswirkungen der Illegalisierung auf Migrant/innen können für Österreich und die Schweiz als grundsätzlich ähnlich angenommen werden. Dennoch gibt es unterschiedliche Bedingungen. Bewusst habe ich daher den Teil des Unterrichtsmaterials, der die rechtlichen Situationen und die Rechtspraxis in den Staaten den Schüler/innen zugänglich macht, ausgespart und gebe an dieser Stelle lediglich Hinweise bezüglich Informationsquellen.
2 Unterrichtsentwurf
Kernanliegen für die Stunde
Ich blicke beim Planen auf den Inhalt und das von mir reduzierte Stück daraus einerseits und auf „mei-ne“ konkrete Lerngruppe (und damit auch auf mich als deren Teil) andererseits und frage mich: Wenn die Stunde gut gelaufen ist, wenn also alle Beteiligten ih-ren eigenen Zugang zum Inhalt suchen wollten und finden konnten und ich diese gefundenen Zugänge als relevant bezeichnen kann, wenn wir gut, d.h. lebendig zusammen gearbeitet haben: Was ist dann nach der Stunde anders als es vorher war? Anders ausgedrückt: Was möchte ich in der Stunde ermöglichen, fördern und fordern?
- Ich fordere die Lernenden heraus, sich mit Biografien der Illegalisierten und deren Lebenssituation allgemein und fokussiert bezüglich Arbeit, Wohnen, sich zu bilden, Gesundheitsfürsorge und persönliche Netzwerke auseinanderzusetzen.
- Ich wünsche mir, dass sie diese Biographien zu ihrer eigenen in Bezug setzen. Ich will über politische wie emotionale Aspekte dieser Situation mit den Schülerinnen und Schülern in Dialog treten.
Thema in den Mittelpunkt der unterrichtlichen Interaktion stellen: Kernanliegen = Illegalisiert in Deutschland. Wie sähe mein Leben ohne Papiere aus?
Das so formulierte Thema dient mir in der Stunde als Überschrift und als Leitungskompass. Seine Funktion als Überschrift nutze ich in diesem Falle nach einer Einstiegsübung (vgl. Stundenverlaufsplanung unter 5). Bei dieser Strukturentscheidung steht für mich im Vordergrund, durch das methodische Arrangement erst eine Erfahrung möglich zu machen, bevor ich den Inhalt, um den es mir geht, mittels des Themas verbalisiere. Auch intendiere ich, die Sprachlosigkeit, die sich für Illegalisierte zwangsweise häufig einstellt, in der Anfangsübung erfahrbar werden zu lassen. Würde ich das Thema zuvor nennen, schränkte ich die Erfahrungsebene zugunsten eines rationalisierenden Moments ein. Das widerspricht an dieser Stelle meinem Anliegen. Ich nenne das formulierte Thema der Stunde also erst nach der ersten Übung. Für die weitere Arbeit ist es mein Leitungskompass. Austausch- und Diskussionsprozesse kann ich so jederzeit dahingehend prüfen: Sind wir noch bei unserem Thema? Geht es gerade um ein Unterthema? Brauchen wir eine neue Verständigung über ein gemeinsames (neues) Thema? Auch beim Abschluss der Stunde dient mir die Formulierung erneut. Sie kann eine Aufforderung sein, sich im Plenum dazu zu äußern, oder auch ein Auftrag, einen Text dazu zu verfassen.
Hinweis: Das vollständige Unterrichtsmaterial und eine differenzierte Beschreibung des unterrichtlichen Durchgangs finden sich im pdf des Beitrages Stefan Padberg (2012). Illegalisiert in Deutschland: Wie sähe mein Leben ohne Papiere aus? In GW-Unterricht, 128, 18-27.


Text: Stefan Padberg (2012)
Bild: OpenAI (2025)
Literatur: s. pdf des vollständigen Beitrages

