In seinem Beitrag „Was ist digitale Aufklärung? Kant und das Problem der neuen Medien“ für die Philosophie-Blog prae|faktisch.de geht Jörg Nöller auf das Problem der digitalen Unmündigkeit ein und prüft kritisch, wie wir uns aus dieser befreien können. Er bezieht Kants berühmten Aufsatz „Was ist Aufklärung?“ auf die Potenziale und Gefahren der Digitalisierung. Dabei untersucht er, inwiefern Kants Annahmen hierfür noch relevant sind und inwiefern wir einer „digitalen Unmündigkeit“ unterliegen und dementsprechend eine „digitalen Aufklärung“ benötigen.
Zunächst legt Noller Kants Konzeption von der selbstverschuldeten Unmündigkeit und seinen Begriff der Aufklärung dar. Unter Unmündigkeit verstünde Kant, meint Nöller, die Unfähigkeit, seinen eigenen Verstand zu nutzen, ohne dabei von einem Medium angeleitet zu werden. Nicht aber der Mediengebrauch bzw. der -missbrauch sei die Ursache für unsere selbstverschuldete Unmündigkeit, sondern wir selbst. Der Grund dafür bestehe im blinden Befolgen von Anweisungen und Gesetzen. Dass wir uns, selbst durch unseren Mediengebrauch unmündig machen, könne – so Noller – auf die aktuelle Entwicklung der Digitalisierung übertragen werden. Hierbei diene vor allem das Internet als Ersatz für das eigene Denken. Auch Jürgen Habermas weist darauf hin, dass eine digitale Unmündigkeit durch eine Blasenbildung entstehe, in der sich Illusion, Fiktion, Simulation und Realität vermischen. Zudem werde diese, so Habermas, durch ‚fake news‘ zusätzlich verstärkt.
Die Frage, die Noller nun stellt, ist, wie man der digitalen Unmündigkeit entgehen kann. Für Kant ist die Aufklärung der Ausgang aus der selbstverschuldeten Unmündigkeit. Für die Aufklärung braucht der Mensch die Freiheit, seine Vernunft im öffentlichen Raum zu gebrauchen. Gemeint sind damit zum Beispiel die Redefreiheit und Freiheit, seine Meinung zu äußern.
Noller fragt, inwiefern Kants Überlegungen auf die Digitalisierung angewendet werden können. Dazu definiert er zunächst, was man unter „digitaler Unmündigkeit“ verstehen könne. Dazu bestimmt er den Begriff der Digitalität, der die qualitative, lebensweltliche Seite der Digitalisierung darstellt. Das Internet, Computerspiele und die künstliche Intelligenz sind für Noller drei Phänomene, die lebensweltlich definiert und ethisch problematisiert werden müssen. Beispielsweise muss das Internet als sozialer Handlungsraum gedacht werden, in dem moralische Grenzen gelten müssen, die aber noch unbestimmt sind.
In einem zweiten Schritt geht Noller genauer auf den Begriff der digitalen Unmündigkeit ein. Mit Rückgriff auf Kant werden wir digital unmündig, wenn wir einerseits von den Strukturen, Gesetzen und Inhalten der neuen Medien und andererseits von der Technik, für die wir ökonomische Faktoren sind, abhängig werden. Laut Noller verlieren wir uns in den digitalen Medien im Sinne eines Konsumraumes, der kritische Blick von außen fehle uns dann. Wir glauben das, was wir „im Internet“ lesen, ohne es mit der eigenen Vernunft zu prüfen.
Anschließend betrachtet Noller die Möglichkeit einer digitalen Aufklärung. Für Kant ist die Aufklärung, wie oben dargelegt, der öffentliche Gebrauch der Vernunft. Eine digitale Aufklärung würde analog also im digital-öffentlichen Gebrauch unserer Vernunft bestehen. Doch wie ist das möglich? Noller schlägt vor, dass beispielsweise das Internet nicht nur als Konsummedium gedacht wird, sondern als ein virtueller Handlungsraum, in dem unsere Handlungen virtuelle Realität sind. Und als Handelnde seien wir für diese dann auch verantwortlich. Insofern könne eine digitale Aufklärung darin bestehen, die Digitalisierung als einen Grund zu denken, der uns Freiheit ermöglicht, und zwar „im Sinne eines öffentlichen, vernetzen Gebrauchs unserer Vernunft“ (Noller 2023). Somit stellt für Noller die digitale Aufklärung die Eröffnung von neuen Handlungsräumen dar, die uns Mitbestimmung und Partizipation auf eine räumlich und zeitlich flexible Art und Weise ermöglichen. Die digitale Mündigkeit bestehe demnach nicht in einer technokratischen Medienkompetenz – dem instrumentellen Umgang mit der Digitalisierung –, sondern darin, die Digitalisierung öffentlich zu gebrauchen. Durch diese digitale Mündigkeit werde laut Noller die individuelle und kollektive Autonomie vergrößert, wenn wir uns aktiv weigern, zu bloßen passiven Datensätzen zu verkommen. Der digitale Raum wird also nicht mehr als reiner Konsum- oder Informationsraum erlebt. In diesem öffentlichen Handlungsraum müssen dann allerdings digitale Tugenden von der reinen Medienkompetenz unterschieden werden. Die Tugenden leiten uns insofern an, als sie dafür sorgen, die digitale Technik in unsere Lebenswelt einzubinden, sodass unser Handlungsraum und auch unsere Selbstbestimmung vergrößert wird.
Text: Carolin Salemink (2023)
Bild: Johann Gottlieb Becker (1720-1782) – http://www.philosovieth.de/kant-bilder/bilddaten.html