Der folgende Beitrag liefert einen Überblick zur Kritik der Piaget-Kohlberg-Tradition; nicht alle kritischen Perspektiven stellen die Ergebnisse der kognitiv-konstruktivistischen Forschung zur Entwicklung moralischer Urteilsfähigkeit grundsätzlich in Frage
Psychologische und soziokulturelle Kritik am Anspruch der bereichsunabhängigen Gültigkeit
Bereichstheoretische Forschungen im Feld der psychologischen Kognitionsforschung greifen den Anspruch der bereichsunabhängigen Gültigkeit durch Untersuchungen zu verschiedenen Domänen an, d.h. sie erschließen soziale Kontexte, die nicht durch von Kohlberg verwendete Dilemmata abgebildet werden und nehmen auch nicht-kognitive Aspekte in den Blick.
Basics | Kohlberg & Selman – Überblick zu kognitivistischen Konzepten der Moralerziehung in Anschluss an Jean Piaget
Didaktisch-methodische Relevanz Die Grundthese der Forschung zur moralischen Urteilsfähigkeit ist, dass durch moralisches Konflikterleben die je eigenen Strategien der Beurteilung als nicht hinreichend erfahren werden, so dass die Person, um…
Eine ausführliche Darstellung zur Piaget-Kohlberg-Tradition findet sich in der nebenstehenden Publikation für Referendar*innen und an einer Vertiefung ihres Professionswissens interessierte Ethik- und Philosophielehrkräfte:
In solchen Untersuchungen konnte festgestellt werden, dass Niveau-Einstufungen, die mit dem Kohlberg-Programm erhoben wurden, vor allem in den höheren Stufen nicht stabil sind, wenn man alternative Szenarien verwendet, die interpersonale und gruppenbezogene Verhältnisse stärker thematisieren und altersspezifische Konflikte ins Zentrum der Reflexion stellen, die den Probandinnen und Probanden auch emotional näher sind; Kohlberg reagierte auf diese Ergebnisse, indem er seinen Ansatz differenzierte und nicht mehr vom moralischen Urteil generell, sondern vom Gerechtigkeitsurteil sprach (vgl. hier und im Folgenden Becker 2011, 307ff.). Im Folgenden werden unter Bezug auf Becker (2011) in Auswahl Bereiche skizziert, die Kohlbergs eigene Forschung nur teilweise berührte oder erfasste, die aber für die Begründung einer Kontextabhängigkeit moralischer Urteile relevant sind – fast alle Ansätze entwickeln eigene Modelle, um die erhobenen Strukturen in ihrer Entwicklung abzudecken:
- Eigenständigkeit des Urteilens zu Fragen distributiver Gerechtigkeit: Damon (1975, 1984) untersuchte mit jüngeren Kindern Fälle von Verteilungsgerechtigkeit, in denen ungleiche Verteilungen auf Grund von Verdienst und/oder Bedürftigkeit als Herausforderung für ein auf strenge Gleichbehandlung ausgerichtetes Denken enthalten sind; damit stellt er in Frage, dass Gerechtigkeit als Prinzip mit einem Verstehen von sich als moralische Person verbunden sei. Damons Kritik zielt darauf ab, dass moralisches Urteilen bereichsspezifisch sei, dass sich die Stufensequenz also abhängig vom thematisiertem Kontext ändere, da er für höhere Stufen ein fürsorgeorientiertes, relatives Moralkonzept feststellt, für niedrigere Stufen – also bei kleinen Kindern – hingegen bereits ein an Autonomie orientiertes Moralkonzepte ausmacht; da Damon keine Erhebungen bei älteren Kindern, Jugendlichen und jungen Erwachsenen vornahm, blieb bis heute offen, wie sich die Stufenprogression bei Fragen distributiver Gerechtigkeit entwickeln würde.
- Eigenständigkeit prosozialen Urteilens: Eisenberg (Eisenberg, Lennon & Roth 1983, Eisenberg 1986) untersuchte bei jüngeren Kindern Situationen, in denen prosoziales Verhalten mit hohen Kosten für den Helfenden verbunden war; in keiner der Situationen war das Leben der betroffenen Person(en) aber direkt bedroht oder es bestand eine direkte Beziehung zwischen Helfendem und Hilfsbedürftigem – auf diese Weise wollte Eisenberg Pflichten und Rechte höherer Ordnung ausschließen. Eisenberg stellte fest, dass Orientierungen an Autorität und Strafe fast vollkommen fehlten und sich entsprechend die Stufe der präkonventionellen Moral Kohlbergs vor allem bei jüngeren Kindern nicht bestätigte; zudem stellte Eisenberg kontextabhängige Bevorzugungen von Stufen fest – vor allem in den späteren Untersuchungen mit älteren Probanden – und gab somit den Kern der Stufenkonzeption als Entwicklungsstufen auf.
- Eigenständigkeit des Urteilens in Bezug auf Konventionen und persönlichen Angelegenheiten: Turiel (1998, 2002) und seine Forschungsgruppen legten den Finger auf einen „blinden Fleck“ der Kohlberg-Forschung. Denn sowohl Piaget als auch Kohlberg fokussierten sich in ihren Untersuchungen auf den moralischen Kern von Dilemmasituationen – ob sich die Probanden aber bei ihren Begründungen auf andere Arten von Regeln beziehen wie Konventionen oder Spielregeln, wird nicht reflektiert. Turiel konfrontierte seine Probandinnen und Probanden einerseits mit Situationen, in denen Konventionen, nicht moralische Regeln über die Angemessenheit oder Unangemessenheit entscheiden, andererseits mit Situationen, die eine Entscheidung zwischen der Orientierung an einer moralische Norm und einer konventionellen Norm fordern. Die Turiel-Gruppe konnte dabei über die Jahre hin nachweisen, dass bereits jüngere Kinder zwischen moralischen Normen, Konventionen und persönlichen Angelegenheiten unterscheiden können, wodurch einerseits die Stufenfolge, andererseits der Generealisierungsanspruch der Entwicklung des Gerechtigkeitsurteils der Kohlberg-Forschung im Sinne einer kulturübergreifenden Geltung angegriffen wird.
- Solidarischer Perspektiven von Angehörigen benachteiligter sozialer Gruppen: Verschieden Autor*innen (u.a. Snarey 1985, Vester et al. 2001) widmen sich dem Befund, dass die bis Ende der 1970er Jahre ermittelten Ergebnisse der Kohlbergforschung Angehörigen der damals noch nach dem Schichtenmodell der Gesellschaft klassifizierten unteren Schichten selten postkonventionelle Niveaustufen zuschreiben; Kohlberg wird der Vorwurf gemacht, dass die von ihm gefassten postkonventionellen Stufen eine Idealisierung bürgerlichen Denkens darstellen, das am Individualismus orientiert ist; er übersehe damit, dass postkonventionelle Argumentationsfiguren auch mit Bezug auf Gemeinschaftsinteressen, wie sie von Angehörigen benachteiligter Bevölkerungsgruppen verwendet werden, formuliert werden können, wie sie z.B. ihren Ausdruck finden in universalistischen Solidaritätskonzepten und einem Unrechtsbewusstsein gegenüber sozialer Ungleichheit. Hier wäre entsprechend Solidaritätsgefühl und Unrechtsbewusstsein keine situationsabstrahierte Vorstellung, sondern ein situations- respektive kontextbezogenes Sensorium für die Verletzung universeller Moralansprüche (vgl. Becker 2011, 345 unter Bezug auf Honneth 1990, 187).
- Gerechtigkeitsurteil als Universalisierung männlicher Perspektiven: Gilligan wies als erste auf das Problem hin, dass Kohlberg sein Stufenmodell ausschließlich anhand der Ergebnisse männlicher Probanden entwickelt hatte; hierbei sei es zu einer Bevorzugung abstrakt-universalistischer Standpunkte gegenüber situativen Aspekten bei der Beurteilung moralrelevanter Situationen gekommen: Innerhalb eigener Untersuchungen, die kontextspezifisch differenziert waren und eine hohe emotionale Involvierung der Proband*innen auch wegen geschlechtsspezifischer Aufgabenstellungen wie Wehrdienst und Schwangerschaftsabbruch enthielten, stellte Gilligan hohe Anteile an Stufenregression fest, d.h. ein Abweichen von Argumentationen, die eine universalistische Distanz einnahmen. Die hohe Ausdifferenzierung von Argumentationen weiblicher Probanden innerhalb einer an Fürsorge orientierten Moral (u.a. Zuwendung, Pflege) wiesen für Gilligan auf eine Geschlechtsspezifität von Moral hin, die im Falle von Frauen differenzierend kontextbezogen und narrativ sei, nicht formal und abstrakt wie in den postkonventionellen Kohlbergstufen formuliert (vgl. Becker 2011, 351 unter Bezug auf Gilligan 1984, 28). Da die Datenbasis von Gilligans Untersuchungen schmal war, wurden ihre Annahmen einer geschlechtsspezifischen Moral weiter untersucht und gelten heute als widerlegt; dennoch führte Gilligans Kritik zu einer Differenzierung moralrelevanter Aspekte wie Selbst- und Beziehungsverständnis und Folgeuntersuchungen konnten zeigen, dass Angehörige beider Geschlechter geschlechtsspezifische moralrelevante Situationen dann fürsorgeorientiert bewerten, wenn diese Situationen ihnen vertraut und für sie relevant sind (vgl. Nummer-Winkler 1994, 1989)
- Gerechtigkeitsurteil als Universalisierung westlicher Kulturperspektiven: Aus einer kulturpsychologischen, -soziologischen oder auch einer kulturethnographischen Perspektive erscheinen Kulturen als soziale Konstrukte, innerhalb derer sich Mitglieder einer Gemeinschaft als sozialen Gesamtheit zurechnen, indem sie nach innen wie nach außen gerichtete Zuschreibungen vornehmen, worüber sie ihre Gemeinschaft konstituieren; dies erfolgt u.a. über die Annahme geteilter Wertorientierungen, Normen, Praktiken, materielle und geistige Güter, von denen sie erwarten, dass ihre Mitglieder sich diese innerhalb von Sozialisationsprozessen aneignen. Infolgedessen ist mit sich unterscheidenden moralrelevanten Äußerungen bei den Mitgliedern entsprechend enger oder weiter gefassten „Kulturen“ zu rechnen (vgl. Kap. 4.5); hiervon ausgehend entfaltete sich eine Kritik an Kohlbergs Anspruch der kulturübergreifenden Geltung des Stufenmodells durch Autorinnen und Autoren, die von einer Kulturspezifität moralischer Urteilsstrukturen ausgehen. Die Kritik richtet sich einmal an die Auswahl der Probanden, einmal an die Auswahl der ethischen Theorien und einmal an die vereinfachten kulturbezogenen Annahmen, die die Grundlage von Kohlbergs kulturbezogenen Überlegungen bilden, die zu einer Unterschätzung der Urteilskompetenz von nicht am individualistischen Ideal westlicher Kulturkonzepte orientierten Probanden führte (vgl. u.a. Simpson 1974, Shweder 1982).
Zusammenfassend kann festgehalten werden, dass Kohlbergs Anspruch der bereichsunabhängigen Gültigkeit aus mehreren Perspektiven angreifbar ist, vor allem weil die besprochenen Dilemmasituationen mehrheitlich die Lebenswelten von männlichen Probanden als Angehörige einer weißer Mehrheitsgesellschaft berühren und zudem bürgerliche Vorstellungen individualistischer Lebensweisen idealisieren. Ethikunterricht würde mit Bezug auf die oben skizzierten Kritikpunkte also fehlgehen, wenn er auf eine vergleichbare Weise selektiv wäre in der Auswahl unterrichtlicher Themen und somit nicht die vielperspektivischen Lebenswelten der Schülerinnen und Schüler und deren Biografien in einer postmigrantischen Gesellschaft zu berühren versuchen würde. Entsprechen gilt es, die Ausdifferenzierungen mitzudenken, die die einzelnen Kritiklinien z.B. innerhalb von alternativen Modellbildungen vorschlagen und sie zum Ausgangpunkt einer differenzierenden kultursensiblen Unterrichtplanung zu machen. Situationen, die zu moralrelevanten Erfahrungen führen, sind komplex, Versuchssituationen aber immer unterkomplex, um bestimmte Faktoren zu isolieren, die genauer betrachtet werden sollen. Ob moralrelevantes Lernen ausschließlich durch einsichtiges oder durch umweltabhängiges Lernen herbeigeführt wird, ist für schulischen Unterricht aber eine vornehmlich akademische Frage, da pädagogische Situationen immer gestaltete und unvorhersehbare Aspekte beinhalten. Im schulischen Unterricht baut man keine Testsettings auf, man gestaltet bildungsrelevante Situationen auf Grundlage theoretischer und empirischer Erkenntnisse. Im Ganzen spricht viel dafür Bildungsmaßnahmen breit zu streuen und mehrere Perspektiven in deren Gestaltung und Begleitung zu berücksichtigen.
Von bewusster zu unbewusster moralischer Vernunft
Seit den 1990er Jahren (vgl. ausführlich Becker 2011, 387ff.) entwickelte sich in der psychologischen Forschung ein grundsätzlicher Zweifel am Sinn von Stufendifferenzierungen und an der strukturellen Ganzheit im Zusammenhang von Urteil und Handlung, verschiedenen Forscherinnen und Forscher hielten vielmehr intuitive Entscheidungen und biologische Faktoren für ausschlaggebend dafür, wie Personen moralrelevante Situationen deuten und entsprechende Entscheidungen treffen:
- Moral als Intuition: Theorien der sozialen Informationsverarbeitung (u.a. Crick & Dodge 1994) versuchten zu erklären, wie Wahrnehmung, Informationsverarbeitung, Suche und Auswahl von Handlungsmöglichkeiten zusammenspielen; hierbei wurde deutlich, dass Menschen mit unterschiedlichen Dispositionen, z.B. in Phasen negativer Stimmung, dieselben Informationen anders bewerten als andere Personen; Nelson & Crick (1999) nutzten das Modell, um die Entwicklung prosozialer Moral zu untersuchen. In den Wirtschaftswissenschaften wurden verschiedenen Spielszenarien vorgelegt wie das „Ultimatum-Spiel“ oder das „Diktatorenspiel“, um Theorien rationaler Entscheidungsfindung („Rational-Choice-Theorien) zu entwickeln und auf diese Weise Handlungsentscheidung von Proband*innen in verschiedenen sozialen Konstellationen zu untersuchen (vgl. Fehr, Rockbach & Bernhard 2008). Allen Ansätzen gemein ist, dass sie weniger das rationale präskriptive Urteil für entscheidend halten für die Handlungswahl, sondern – abhängig vom Ansatz – emotionale Intuitionen, etablierte Heuristiken, subjektive Expertisen als Erfahrungswissen oder implizite soziale Orientierungen, die Entscheidungen eher unreflektiert hervorbringen; sogenannte duale Prozessmodelle, die kognitive und affektive Prozesse im Rahmen der Entscheidungsfindung berücksichtigen (u.a. Gigerenzer 2007, 2010) sind Ergebnis dieser Forschungsrichtungen.
- Moral als Produkt von Evolution: Biologische Theorieansätze betonen die Bedeutung von evolutionären, verhaltensgenetischen und neuronalen Prozessen für die moralische Entwicklung des Individuums. Vor diesem Hintergrund erscheinen moralische Handlungsentscheidungen als überwiegend unbewusste Ergebnisse biologischer Prozesse in einer Person; so werden z.B. pro- oder antisoziale Verhaltensweisen aus der evolutionären Bedeutung der Gruppenbildung in der Menschheitsgeschichte erklärt (vgl. Theorie des reziproken Altruismus, u.a. Buss 2006); diese werden u.a. durch Untersuchungen zu tierischen Formen vormoralischen Verhaltens unterstützt (u.a. de Waal 1996). Seit den 1980er Jahren nahmen Beiträge aus der moralpsychologischen Kognitionsforschung zu (u.a. Damasio 2006, Roth 2007), die über die Untersuchung von hirngeschädigten Patientinnen und Patienten Hirnareale isolierten, die chaotisches selbstschädigendes, pro- und antisoziales und auch aggressives Verhalten regelten; diese Ansätze betrachten Emotionen als Bestandteil des Rationalisierens in dem Sinne, als Emotionen sogenannte Vernunftentscheidungen nicht nur begünstigen, sondern generell erst ermöglichen.
- Moralische Intuitionen als Repräsentationen vernunftbezogener sozialer Konstruktionen von Gerechtigkeit und Zugehörigkeit: Jonathan Haidt (u.a. Haidt 2008) unternimmt in der Analyse Beckers (Becker 2011, 397) den Versuch, Erkenntnisse der sozialen Lerntheorie (u.a. Bandura 2004), der Kulturpsychologie (Shweder 1982), der Theorie der sozialen Informationsverarbeitung, der Empathie-Forschung und der Evolutionsbiologie zusammenzubringen. Er entwickelt dabei eine intuitionistische Perspektive auf moralische Gefühle und Tugenden und stellt fest, dass Personen, sozialisationsbedingte Dispositionen mitbringen, die sie in die Lage versetzen, sich auf mehr oder weniger Bereiche intuitiver Ethik zu beziehen. Nach Haidt unterstützen Intuitionen Urteilende darin, Strukturen zu erkennen („pattern-matching“), mithilfe derer moralische Herausforderungen gelöst werden können; er bezeichnet diesen Prozess als ein „seeing-that“ (Haidt, 2012, 50), das in einem unmittelbaren Erkennen besteht, dass ein moralisch-ethischer Sachverhalt auf eine bestimmte Weise richtig oder falsch ist. Intuitionen sind schnelle, Reaktionen, die nicht zwangsläufig mit stimmigen moralischen oder ethischen Urteilen verbunden sind. Der Prozess des „reasoning-why“ (Haidt, 2012, 51), resp. der rationalen Begründung, erfolgt erst im Nachgang und fordert größere kognitive Ressourcen und Zeit, um mehr Informationen zu verarbeiten (vgl. Unterrichtsentwurf Jan Hofmann in Kap. 6 zur Reflexion von Ad-hoc und Post-hoc-Urteilen).
Führt man die in neueren Ansätzen vertretenen Positionen zu kognitionspsychologischen Grundannahmen der strukturgenetisch-konstruktivistischen Piaget-Kohlberg-Tradition zusammen mit der sozial-psychologischen und soziokulturellen Kritik, ändert sich zunächst nichts am oben formulierten pädagogisch-didaktischen Auftrag, der darin besteht, Lernfelder zu schaffen und Methoden einsetzen, die dichte sozial-emotionale und kognitiv stimulierende Interaktionen unter Schülerinnen und Schülern ermöglichen. Erziehung in der Schule hat generell weniger eine Beschleunigung der Entwicklung zu leisten als eine Ausweitung und Differenzierung moralrelevanter Kompetenzen, die viele Facetten haben und aus miteinander verwobenen kognitiven und affektiven Dimensionen zusammengesetzt sind, die innerhalb schulischer Lern- und Bildungsfelder nie völlig isolierbar und nie differenziert abbildbar sind.
Pädagogische Integration psychologischer, soziokultureller und intuitiver Aspekte
In ihrem Beitrag „Moralentwicklung und moralische Sozialisation“ nimmt die Entwicklungspsychologin Monika Keller die Bedeutung sozialer Erfahrungen für die moralische Entwicklung genauer in den Blick.
Basics | Monika Keller: Moralentwicklung und moralische Sozialisation
„Die Moral des Kindes erhellt auf eine Weise die Moral des Menschen. Wenn man daher Menschen bilden will, so ist nichts nützlicher als das Studium der Gesetze ihrer Entwicklung.“ Jean…
Sie stellt hierzu fest, dass moralische Sensibilität nur in Situationen entstehen könne, innerhalb derer sich das jüngere oder ältere Kind, der Jugendliche und auch der junge Erwachsene „mit den Wünschen, Erwartungen und Gefühlen von Selbst und anderen und mit den Regeln, die in diesen Interaktionen Geltung haben“ (Keller 2005, 160f.) konfrontiert sieht. Hierbei gehe es nicht nur um explizite Inhalte deklarativen Wissens, sondern auch um implizit wirkende Wertvorstellungen und Normen und auch darum, wie ein Kind sich in Interaktionen mit bedeutsamen anderen Personen erfährt und in welchem kulturellen Wertesystem sich diese Interaktionen vollziehen:
„Eine zentrale Bedeutung kommt zunächst der Eltern-Kind-Beziehung zu, in der die frühesten Erfahrungen moralischer Sozialisation stattfinden. […] Explizite und implizite Sozialisation, Kognition und Emotion bilden das moralische Klima einer Beziehung. Wenn Prozesse moralischer Sensibilisierung in der Familie nicht stattfinden oder die moralischen Grunderfahrung fehlt, als Person akzeptiert und respektiert zu werden, kommt es zu Schwierigkeiten in der moralischen Entwicklung, und zwar vor allem zu einer Desintegration von Kognition und Affekt. […| In Übereinstimmung mit Piagets (1932/1973) Annahmen zeigen auch die Ergebnisse neuerer Forschungen, dass den Erfahrungen in der Gruppe der Gleichaltrigen eine besondere Bedeutung für die moralische Entwicklung zukommt (vgl. Krappmann 1994). Einerseits kann in der Gruppe der im Prinzip Gleichgestellten die Geltung moralischer Regeln in anderer Weise ausgehandelt werden als in Autoritätsbeziehungen. Andererseits kommt im Entwicklungsprozess insbesondere den Freundschaftserfahrungen eine besondere Bedeutung für die Moralentwicklung zu (Keller 1986, 1996; Youniss 1980, 1984). Neben dem Erlernen des Aushandelns von Regeln mit Gleichgestellten ist die Erfahrungen von Intimität und Nähe eine wesentliche Bedingung für die Entwicklung sozialer Reziprozität (Sullivan 1980).[…] Der Schule kommt eine wesentliche Funktion in der moralischen Sozialisation zu, obwohl sie sich – insbesondere in westlichen Gesellschaften – dieser Aufgabe nicht hinreichend bewusst ist. Auch hier geht es einerseits um explizite Sozialisationsprozesse und andererseits um die impliziten Erfahrungen dessen, wie Schüler sich als Person durch Gleichaltrige und Lehrer behandelt fühlen. Das kennzeichnet das moralische Klima einer Schule (vgl. Edelstein, Oser & Schuster 2001). Untersuchungen zeigen, dass moralrelevante Erfahrungen des Alltagslebens im Erleben von Konflikten und Ungerechtigkeiten in der Schule bestehen.“ (Keller 2005, 161)
Keller betont in ihrem Beitrag ausdrücklich, dass sich die Erfahrungen, die Schüler*innen in ihren Kernfamilien und weiteren sozial-kulturellen Feldern machen, unterscheiden, wodurch sich unterschiedliche Orientierungen an Individualismus, Hedonismus, Altruismus etc., auch abweichende Tugendvorstellungen ergeben. Mit Blick auf die oben dargelegten empirischen Erkenntnisse scheint eine gewisse Zurückhaltung gegenüber moralisch einseitig gerahmten Unterrichtsthemen geboten zu sein; vielmehr sei eine größere sozial-kulturelle Varianz anzustreben; unter Bezug auf die vorangehenden Überlegungen lassen sich die folgenden Schlussfolgerungen zur Förderung moralbezogener Kompetenzen ziehen:
- Moralische Qualität des Arbeitsbündnisses: Fairness, Gerechtigkeit, bedingungslose Transparenz, unterschiedslose Zugänglichkeit und Zuwendung für die Belange von Schülerinnen und Schülern stellen die Grundvoraussetzung dar für ein von wechselseitiger Wertschätzung getragenes Arbeitsbündnis.
- Moralische Qualität der Institution Schule und des eigenen Unterrichts als Segment der Institution Schule: Schulische Rahmenbedingungen wie Ordnungsvorgaben, Prüfungsvorgaben etc. sind streng zu hinterfragen hinsichtlich impliziter gewaltvoller Hierarchien und so weit als möglich abzubauen und stets beim Schließen von Arbeitsbündnissen zu reflektieren.
- Unterrichtsgestaltung (Beziehungs-, Handlungsstruktur): Qualitätvollen Interaktionen zwischen Schüler*innen und handlungsorientierten Unterrichtsverfahren ist, wo immer möglich, der Vorzug zu geben gegenüber transmissiven, von Lehrerkräften geleiteten Unterrichtsverfahren, um ein hierarchiefreies Verhandeln sozial, moralisch und demokratisch relevanter Fragestellungen unter Gleichaltrigen zu ermöglichen; die Förderung entsprechender instrumenteller Fähigkeiten, die ein positives Erleben der Reflexion moralrelevanter Aspekte von Sachthemen und ein förderliches Moderieren von Konflikten ermöglichen, stellt ein grundlegendes Unterrichtsziel dar.
- Unterrichtsthemen (Ziel-, Inhaltsstruktur): Aufbauend auf dem Prinzip der kategorialen Bildung sind kognitiv wie emotional förderliche exemplarische Inhalte zu wählen, die fundamentale Lernerfahrungen ermöglichen, angepasst an die jeweiligen Schülerinnen und Schüler, an deren transkulturellen Hintergründe, internationale Biografien, Milieuherkünfte etc., um das Elementare herauszuarbeiten mit dem Ziel der Förderung der Fähigkeit zur Selbstbestimmung und Kritikfähigkeit, der Fähigkeit zur Mitbestimmung, der Fähigkeit zu Empathie, Solidarität und Moralität.
Zusammenfassung der wichtigsten Erkenntnisse zur Kritik der bereichsunabhängigen Gültigkeit und der Bewusstheit moralischen Urteilens und Handelns:
- Die Kritik an der bereichsunabhängigen Gültigkeit arbeitet heraus, dass soziale Kontexte komplexer sind als dies die Dilemma-basierte Forschung zur Struktur des Gerechtigkeitsurteils der Kohlberg-Schule abbildet; Ergebnis davon sind differenzierende Modelle zur Strukturierung der sozialen Felder distributive Gerechtigkeit (u.a. Damon 1984), prosoziales Verhalten (u.a. Eisenberg 1986), Konventionen und persönliche Angelegenheiten, (u.a. Turiel 1998) Solidarität (u.a. Snarey 1985), rollenspezifische Urteilssituationen (u.a. Gilligan 1984), kulturelle Unterschiede hinsichtlich moralischer Ideale( u.a. Simpson 1974).
- Die Kritik an der Bewusstheit moralischen Urteilens und Handelns arbeitet heraus, dass das Konzept rationaler Entscheidungen eher ein idealistisches kulturelles Konstrukt ist; vielmehr würden Entscheidungen in erster Linie von affektiv-emotionalen (u.a. Fehr, Rockbach & Bernhard 2008) und biologischen Faktoren abhängen (u.a. Damasio 2006) und weitestgehend intuitiv verlaufen (u.a. Crick & Dodge 1994, Haidt 2008).
- Die Frage, welches Modell den Urteil-Handlung-Zusammenhang oder die Entwicklung bestimmter Aspekte moralrelevanter Kompetenzen am treffendsten abbildet ist eher eine akademische Frage und für die Gestaltung förderlicher pädagogischer Kontexte nur insofern relevant, als die Modelle variationsreiche Vergleichshorizonte liefern für die Aufgabenkonstruktion und die didaktische Wahl von Unterrichtsthemen
Text: Stefan Applis (2024)
Bild: Freepik (2024)
Empfohlene Open-Access-Literatur
Damon, W. (1975). Early Conceptions of Positive Justice as Related to the Development of Logical Operations. Child Development Vol. 46, No. 2, 301-312. https://doi.org/10.2307/1128122
Fehr, E., Rockenbach, B. & Bernhard, H. (2008). Egalitarism in young children. Nature, 454, 1079-1084. https://doi.org/10.1038/nature07155
Gigerenzer, G. (2010). Moral satisfying: rethinking moral behavior as bounded rationality. Topics in Cognitive Science, 2, 528-554. https://doi.org/10.1111/j.1756-8765.2010.01094.x
Haidt, J. (2008). Morality. Perspectives on Psychological Science, 3, 65-72. https://doi.org/10.1111/j.1745-6916.2008.00063.x
Shweder, R. A. (1982). Liberalism as destiny. Contemporary Psychology, 27, 421-424. https://doi.org/10.1037/021204
Simpson, E. L. (1974). Moral development research: A case study of scientifical cultural bias. Human Development 17, 81-106. https://www.jstor.org/stable/26764337
