Didaktisch-methodische Relevanz
Die Grundthese der Forschung zur moralischen Urteilsfähigkeit ist, dass durch moralisches Konflikterleben die je eigenen Strategien der Beurteilung als nicht hinreichend erfahren werden, so dass die Person, um ihr Selbstkonzept wieder in ein Gleichgewicht zu bringen, ihr wertbezogenes Denken und die ihr zur Verfügung stehenden Argumentationsmuster reorganisieren muss. Für die Bildung bedeutet dies, Möglichkeiten konstruktiver diskursiver Auseinandersetzung zu schaffen, eine Differenzierung moralrelevanter Kompetenzen anzustreben und eine Sensibilisierung für das Erkennen von Situationen, in denen das Einbeziehen von ethischen Werten relevant ist, zu erzeugen.
Mit der Kompetenzorietierung wurden in mehreren Fachdidaktiken zunehmenden Fragestellungen nach der Förderungen von Kompetenzbereichen wie „Beurteilen“, „Bewerten“ und „Handeln“ relevant. Im Zusammenhang mit dem Erstellen von Kompetenzmodellen erlebten deshalb Modelle, die in der strukturgenetisch-konstruktivistischen Piaget-Tradition stehen (Piaget, Kohlberg, Selman et al.) eine Renaissance , da sie als Stufenmodelle konzipiert und empirisch fundiert sind und in einer längeren Forschungstradition stehen. So kann man auf diesen Stufenmodellen basierend gestufte Aufgabenkonzepte entwickeln und Stufenleistungen diagnostizieren. Auf Kohlbergs Modell der Entwicklung des Gerechtigkeitsurteils beziehen sich seit Pisa viele fachdidaktische Publikationen und auch ganze Kompetenzmodelle, z. B. aus Geschichts-, Politik- und Philosophiedidaktik.
Lawrence Kohlberg – Sechs Stufen des Gerechtigkeitsurteils
Lawrence Kohlberg (Kohlberg 1968; in Kohlberg 1995: 26ff.) kommt zu sechs Stufen des Gerechtigkeitsurteils (für eine detaillierte Ausführung siehe Stangl-Taller.at), die er drei Niveaus der Moral zuordnet: dem Niveau einer präkonventionellen Quasi-Moral (Stufe 1-2), dem Niveau der Moral der konventionellen Rollenkonformität (Stufe 3-4) und dem der Moral der selbstakzeptierten moralischen Prinzipien (Stufe 5-6).

Gesellenstetter.html (Abruf Januar 2018, aktuell nicht verfügbar)
Auf Stufe 1 orientieren sich Personen am Gehorsam gegenüber Autoritäten und den von diesen verhängten Strafen; Regeln werden also befolgt, um Strafen zu vermeiden (heteronome Moralität). Auf Stufe 2 dominiert ein naiver instrumenteller Hedonismus, d.h. Personen halten Regeln ein, um Belohnungen zu erhalten. Gutes Verhalten anderen gegenüber, auch das Erwidern von Gefälligkeiten, erfolgt unter egoistischer Perspektive, um im Gegenzug Optionen auf Gefälligkeiten zu erhalten. An wechselseitigen Erwartungen orientieren sich Personen auf Stufe 3. Auf Stufe 4 orientieren sich Personen am sozialen System: „Richtiges Verhalten besteht darin, seine Pflicht zu tun, Respekt vor Autorität zu zeigen und die bestehende Sozialordnung um ihrer selbst willen zu erhalten“ (Kohlberg 1969: in Kohlberg 1995: 52). Stufe 5 ist die Stufe des sozialen Kontrakts bzw. der gesellschaftlichen Nützlichkeit unter Einhaltung gewisser absoluter Werte und Rechte wie Leben und Freiheit. Stufe 6 bildet die Stufe der universellen ethischen Prinzipien, auf der Gesetze oder gesellschaftliche Vereinbarungen deshalb eingehalten werden, weil sie auf diesen Prinzipien der universalen Gerechtigkeit beruhen, nach denen alle Menschen gleiche Rechte haben und die Würde jedes Einzelnen zu achten ist.
Robert L. Selman – Fünf Stufen der Entwicklung der sozialen Perspektivübernahme
Robert L. Selman (1984) gelangt in Folge eigener Forschung zu fünf Stufen der Entwicklung der Perspektivübernahme (für eine detaillierte Ausführung siehe Stang-Taller.at).

Auf Stufe 0 (Alter von 3-6 Jahren) nimmt das Kind wohl wahr, dass Personen verschiedene Gedanken und Gefühle haben, kann aber zwischen Ich- und Er-Perspektive noch nicht differenzieren. Auf Stufe 1 (Alter von 4-9 Jahren) versteht ein Kind, dass verschieden Perspektiven daraus resultieren können, dass Personen unterschiedliches Wissen über eine Situation haben. Stufe 2 (Alter von 7-12 Jahren) ist die Stufe der Selbstreflexion und der Perspektivübernahme: Kinder verstehen, dass eine andere Person auch den eigenen Standpunkt einnehmen kann, außerdem können sie sich – in begrenztem Rahmen – in die Perspektive anderer hineinversetzen. Auf Stufe 3 (Alter von 10-15 Jahren) schließlich können Kinder die eigene Perspektive und die einer anderen beteiligten Person von außen, also aus der Perspektive einer dritten Person betrachten und insofern auch Aussagen über die Beziehung zwischen Personen, auch zwischen sich und einer zweiten Person, machen. Stufe 4 (Alter ab 14 bis Erwachsenenalter) ist die Stufe der sozialen Perspektivübernahme: Hier kann verstanden werden, dass individuelle Perspektiven ihre gesellschaftlichen Voraussetzungen haben in übergeordneten Systemen sozialer Normen und Werte.
Der Aspekt des Wertes des menschlichen Lebens bei Kohlberg im Vergleich zur Herausforderung der Perspektivübernahme gegenüber dem anderen bei Selman

Schlussfolgerungen und pädagogische Bewertung
Piagets Stufen des logisch-kausalen Denkens (für eine grundlegende Darstellung s. Stangl-Taller.at) werden als notwendige, aber nicht hinreichende Bedingungen zu Entwicklung auf den Stufen der Perspektivübernahme verstanden, ebenso wie Selmans Stufen der Perspektivübernahme als notwendige, aber nicht hinreichende Bedingungen zur Entwicklung auf den Stufen der Moralstufen des Gerechtigkeitsurteils verstanden werden. Die kognitiv-strukturelle Stimulierung der Moralentwicklung durch die Umwelt wird entsprechend als notwendiger, aber nicht hinreichender Hintergrund verstanden; ebenso bedeutsam ist die soziale Stimulierung in der Ermöglichung von Gegebenheiten von Rollenübernahme (Mead 1982), wie sie über soziale Interaktion, ein moralisches Miteinander, das Treffen moralischer Entscheidungen und die Reflexion von deren Folgen und den moralischen Dialog erfolgt:
„Aus dieser Sicht ist nicht die umfassende Beteiligung an irgendwelchen bestimmten Gruppen für Moralentwicklung ausschlaggebend, sondern die Teilnahme am Gruppenleben überhaupt“ .
(Kohlberg 1976; in Kohlberg 1995: 167)
Meads Begriff der Rollenübernahme betont die kognitiven ebenso wie die affektiven Aspekte (vgl. stangl.eu) er hebt hervor, „dass sich Rollenübernahme in allen sozialen Interaktionen und Kommunikationssituationen vollzieht und nicht nur in jenen, in denen Gefühle der Sympathie oder Empathie erregt werden“ (Hervorhebung im Original, vgl. Kohlberg 1976; in Kohlberg 1995: 165).
Kohlberg unterscheidet also zwischen sozialer Kognition und moralischer Urteilsbildung:
„Er setzt die moralische Urteilskompetenz ins Verhältnis zum Bereich demokratischer Kompetenz, wobei er von einem engen Zusammenhang beider Kompetenzbereiche ausgeht. Moralerziehung und Demokratieerziehung bedeuten weitgehend dasselbe und deshalb müsse Moralerziehung im Zentrum der politischen Bildung stehen“ .
(Becker 2008: 65)
Das Erleben kognitiv-moralischer Konflikte soll über das Führen von Dilemmadiskussionen angeregt werden; als ebenso wichtig stuft Kohlberg aber die Möglichkeiten zur Rollenübernahme und das moralische Niveau einer Institution in den Augen ihrer Angehörigen ein, was schließlich zum Konzept der Gerechten Schulgemeinschaft (Just-Community-Ansatz) führt.
Zur kognitiv-konstruktivistischen Perspektive auf Moralentwicklung im Sinne des theoretischen Anspruchs einer generellen, personen- und kultur-, auch geschlechtsunabhängigen Entwicklung gibt es mehrere Kritiklinien, die Gegenstand eines weiteren Beitrages sein werden.
Text: Stefan Applis (2022)
Bild: Teamwork people vector created by pch.vector – www.freepik.com
Grafische Darstellungen: https://arbeitsblaetter.stangl-taller.at/
Weiterführendes Material
Methode zur Förderung des Gerechtigkeitsurteils (Kohlberg)
Die Dilemmadiskussion als Unterrichtsmethode – Hintergrund, Einsatz, geeignete Themenfelder
Die Dilemmadiskussionsmethode als Förderinstrument in den Kompetenzbereichen Beurteilung und Bewertung In der deutschen Geographiedidaktik wird die unterrichtliche Reflexion von wertorientierten Fragestellungen als eine zentrale Bildungsaufgabe gesehen (u.a. Haubrich 1994; Hasse…
Methode zur Förderung der sozialen Perspektivübernahme (vgl. Selman)
Literaturauswahl:
Applis, S. (2015). Ein Vergleich kognitionsorientierter Stufenmodelle und ihrer normativen Implikationen für das interkulturelle und wertorientierte Lernen im Geographieunterricht. Zeitschrift für Geographiedidaktik | Journal of Geography Education, 43(1), pp. 3–28. doi10.18452/23625
Becker, G. (2008): Soziale, moralische und demokratische Kompetenzen fördern. Ein Überblick über schulische Förderkonzepte. Weinheim und Basel.
Kohlberg, L. (1995): Die Psychologie der Moralentwicklung. Aufsatzsammlung. Frankfurt a. M.
Mead, G. H. (1982): The individual and the social self. Chicago.
Selman, R. L. (1984): Die Entwicklung des sozialen Verstehens. Frankfurt a. M.