Von der Problemorientierung mit Hilfe von Gelingensgeschichten zur Problemlösungsorientierung

Der Beitrag fokussiert sowohl ein basiskonzeptorientiertes als auch ein  lösungsorientiertes Denken im Geographieunterricht. Kurz: Vom Paukfach zum Denkfach und vom Katastrophenfach zum Zukunftsfach. Der Beitrag stellt die Zusammenfassung des einführenden Vortrags von K. W. Hoffmann während des 24. Bildungstags der GEW-Kreisverbände Groß-Gerau und Main-Taunus im Rüsselsheim am 26. Oktober 2019 dar und nimmt ferner Bezug auf „Gute Gründe für die Erdkunde“ (online unter https://www.klett.de/alias/1130433).

Bildung für nachhaltige Entwicklung – (auch) ein Basiskonzept

Was sind Basiskonzepte? Basiskonzepte (englisch auch „big ideas“ oder „key concepts“) sind grundlegende, für den Schüler nachvollziehbare Erklärungsansätze und Leitideen des fachlichen Denkens, die sich in unterschiedlichen geographischen Sachverhalten immer wiederfinden lassen (Uphues 2013). Am Beispiel der Nachhaltigkeit als „big idea“ kann mans ich das Ganze gut vorstellen, wenn man sich fragt, was aus geographischer Perspektive die zunächst ganz verschieden erscheinenden Themen Massentourismus, Klimawandel und Biokraftstoff gemeinsam haben.

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Abb. 1: Der erweiterte Würfel der geographischen Basiskonzepte (Klett Terasse nach Fögele 2016, 73; grafische Umsetzung: Wolfgang Schaar, Grafing)

Eine – alle Themen verbindende – Antwort wäre z.B. das Basiskonzept „Nachhaltigkeitsviereck“. Alle drei Sachverhalte thematisieren aus geographischer Sicht einen Konflikt zwischen wirtschaftlicher Leistungsfähigkeit, ökologischer Verträglichkeit, sozialer Gerechtigkeit sowie partizipativer Politikgestaltung. Auch das Basiskonzept „Maßstabsebenen/-wechsel“ als geographischer Erkenntniszugang findet sich in allen drei Themen wieder, da z.B. die Auswirkungen der dargestellten Prozesse jeweils Folgen auf lokaler, regionaler, nationaler, internationaler und auch globaler Ebene haben. Das Konzept der Nachhaltigkeit (Abb. 1 und 2) steht für ein neues globales Wohlstandsverständnis, das über die verengte Betrachtung von Pro-Kopf-Einkommen hinausreicht.

Im Laufe der Jahre wurde das sogenannte Nachhaltigkeitsdreieck (Umwelt-Wirtschaft-Soziales) erweitert. So fehlte etwa aus entwicklungspolitischer Überzeugung die politische Dimension. Nachhaltigkeit ist dieser Auffassung nach ohne politische Stabilität und eine entwicklungsorientierte Regierungsführung (good governance) nicht zu erreichen. Also nicht, wenn grundlegende Elemente wie „Menschenrechte“, „Demokratie“, „Frieden“ und „Gleichstellung der Geschlechter“ nicht gewährleistet werden. Unter anderem aus geographischer Perspektive – die Geographie versteht sich als Raum-Zeit-Wissenschaft – wurden die zeitliche und die maßstäbliche Ebene vermisst. Im Sinne der zeitlichen Perspektive kann nur dann von Nachhaltigkeit gesprochen werden, wenn der Einklang zwischen Ökonomie, Ökologie, Sozialem und Politischem nicht die Lebenschancen zukünftiger Generationen entscheidend beeinträchtigt (intergenerationelle Gerechtigkeit). In Bezug auf den Maßstab darf der Ausgleich der vier Perspektiven auf lokaler Ebene, nicht die Entwicklungschancen in anderen Teilen der Welt negativ beeinträchtigen (intragenerationelle Gerechtigkeit). Insofern wird häufig in der Geographie auf das erweiterte Nachhaltigkeitsviereck zurückgegriffen.

Einige solcher wenigen „großen Ideen“ und „Schlüsselkonzepte“ liegen der geographischen Art die Welt zu sehen und zu verstehen zugrunde.  Die Bedeutung geographischer Sichtweisen auf die Welt zeigt sich in der Verschiebung der geographischen Bildung vom fachlichen Lernen über Geographie zum Lernen geographisch, komplex und systemisch, netzwerk- und akteurszentriert zu denken (verändert nach: Engagement Global & Bundesministerium für wirtschaftliche Zusammenarbeit und Entwicklung, 2019, S. 136).

Geographisches Denken orientiert sich zur Bestimmung und Entfaltung eines lohnenden Problems zunächst an folgenden Fragen: Wo ist es? Wie stellt es sich dar? Ist es so? Warum ist es dort? Wie geschah es? Welche Aus- und Nebenwirkungen hat es? Wie sollte es zum gegenseitigen Nutzen von Menschen und Natur gestaltet, geändert, repariert werden?

Die Routine geographischer Denkweisen (Hoffmann, K. W. 2019) benutzt folgende Fragen:

  • Welche räumlichen Muster und Disparitäten lassen sich identifizieren?
  • Welche wichtigen und exemplarischen Probleme lassen sich darin erkennen?
  • Welche Geofaktoren stehen in Lage und Vernetzung zueinander in Beziehung und bilden eine komplexe sachliche Einheit?
  • Wie hat sich dieses Beziehungsgefüge entwickelt bzw. wie wird es sich weiterentwickeln? Entwickle dazu unterschiedliche Hypothesen (Vermutungen) und Szenarien.
  • Welche spezifischen Wechselwirkungen bestehen im System zwischen natürlichen und kulturellen Faktoren?
  • Wie stellt sich ein Problem in verschiedenen räumlichen und zeitlichen Maßstäben dar?
  • Wie lässt sich ein Problem aus unterschiedlichen (lokalen bis globalen) räumlichen, zeitlichen und sozialen Perspektiven betrachten?
  • Wie lassen sich eine qualifizierte Meinung und eine persönliche Stellungnahme zu anderslautenden Meinungen entwickeln?
  • Welche Dimensionen der Nachhaltigkeit betrifft die Problemstellung? Bestehen Zielkonflikte zwischen den Dimensionen des Nachhaltigkeitsvierecks?
  • Mit welchen Nebenwirkungen und mutmaßlichen Folgen möglicher Handlungen ist zu rechnen?
  • Wie lassen sich eigene Handlungsmöglichkeiten im sozialen Kontext entwickeln?

Experten halten Systemkompetenz und Umgang mit dem Nachhaltigkeitsviereck (Hellberg-Rhode et al. 2014) bei der unterrichtlichen Behandlung komplexer Themen für zentral.

Mit Hilfe des Nachhaltigkeitsvierecks (Abb. 2) können Schülerinnen und Schüler im Sinne des Fachverständnisses die benötigten Perspektiven sinnvoll und fachsystematisch (und nicht zufällig-additiv) herleiten, so dass die Problematik „geographisch“ angemessen erörtert werden kann. Komplexe Themen im Fachunterricht müssen mehrperspektivisch behandelt werden. Kurz: Von der Beliebigkeit zur Systematik! So können Themen wie z. B. „Konfliktrohstoff Coltan“, „Zugang zu sauberem Trinkwasser“ und „Massentourismus versus sanften Tourismus“ wie folgt – basiskonzeptorientiert – befragt werden: Welche Dimensionen der Nachhaltigkeit betrifft die Fragestellung? Welche Wechselwirkungen bestehen zwischen den vier Dimensionen? Auf welchen zeitlichen und räumlichen Ebenen liegen Ursachen, Folgen und Gegenmaßnahmen eines Problems zur nachhaltigen Entwicklung? Gibt es zeitliche und räumliche Interdependenzen? Bestehen Zielkonflikte zwischen den Dimensionen des Nachhaltigkeitsvierecks?

Komplexe Themen im Fachunterricht müssen mehrperspektivisch behandelt werden. Kurz: Von der Beliebigkeit zur Systematik!

Definition: Das erweiterte Nachhaltigkeitsviereck bedeutet, dass Entwicklungen gleichzeitig sozial gerecht, wirtschaftlich sinnvoll, ökologisch verträglich und politisch demokratisch sein sollen. Dieser Vierklang gilt nicht nur auf lokaler Ebene, sondern weltweit (global denken, lokal handeln) und sollte auch nicht auf kosten zukünftiger Generationen gelingen.

Beispiel: Wie gelingt es Deutschland in seiner Industrieproduktion die CO²-Grenzwerte, die im Kyoto-Protokoll festgesetzt wurden, zu erreichen? Diskussion: Eine Ursache dafür ist, dass zahlreiche Produktionen nach China ausgelagert wurden. Da China die Grenzwerte nicht einhält, liegt also unter anderem auch daran, dass es unsere Waren produziert. Insofern haben wir in Deutschland eine ökologisch verträgliche Wirtschaft, die sozial gerecht und demokratisch ist, aber auf Kosten anderer Länder. 

Abb. 2: Erweitertes Viereck der Nachhaltigkeit (Hoffmann 2019)

Teil II: Die Sustainable Development Goals – Themen des 21. Jahrhunderts (Beitrag folgt)

Text: Karl W. Hoffmann (2019); Der Beitrag stellt die Zusammenfassung des  einführenden Vortrags während des 24. Bildungstags der GEW-Kreisverbände Groß-Gerau und Main-Taunus im Rüsselsheim am 26. Oktober 2019 von Karl W. Hoffmann dar und nimmt ferner Bezug auf „Gute Gründe für die Erdkunde“ (online unter https://www.klett.de/alias/1130433).

Literaturempfehlungen:

Aubrey, E. (2019): KOMPLEXE NEUE WELT. Was hilft gegen diffuse Ängste? Mehr geopolitsche Bildung für alle! In: arteMagazin 09/2019, S.7.

Bagoly-Simó, P. (2014): Implementierung von BNE am Ende der UN-Dekade. Eine internationale Vergleichsstudie am Beispiel des Fachunterrichts. In: Zeitschrift fürGeographiedidaktik • Journal of Geography Education (ZGD), 42 (4), S. 219-254.

BILDUNG 2030 – veränderte Welt. Fragen an die Bildungspolitik. Gutachten. Vereinigung der Bayerischen Wirtschaft e.V. (Hrsg.), Waxmann Verlag GmbH, Münster 2017. www.vbw-bayern.de/Bildung2030

Engagement Global & Bundesministerium für wirtschaftliche Zusammenarbeit 2019, S. 136.

                                                                                                                                                                       Coen, A. & Hoffmann, K. W. (2010): Würden Sie dieser Frau € 20,- leihen? , Armutsbekämpfung per Mausklick: über die Vergabe eines Mikrokredits entscheiden, in: gh 281/282, 2010, S. 26-35.

DeJong, T. & Fergusson-Hessler, M. (1996): Types and quality of knowledge. Educational Psychologist, H. 3, S. 105-113.

ENGAGEMENT GLOBAL und Bundesministerium für wirtschaftliche Zusammenarbeit (2019): Schulbücher für nachhaltige Entwicklung. Handbuch für die Verankerung von Bildung für nachhaltige Entwicklung (BNE), Bonn.

Fögele, J. (2016). Entwicklung basiskonzeptionellen Verständnisses in geographischen Lehrerfortbildungen: Rekonstruktive Typenbildung | Relationale Prozessanalyse | Responsive Evaluation. Geographiedidaktische Forschungen: Vol. 61. Münster: Monsenstein und Vannerdat.

Gruber, H. (2008): Lernen und Wissenserwerb. In: Schneider, W. & Hasselhorn, M. (Hrsg.), Handbuch der Pädagogischen Psychologie. Göttingen, S. 95-104.

Hellberg-Rode, G., Schrüfer, G. & Hemmer, M. (2014). Brauchen Lehrkräfte für die Umsetzung von BNE spezifische professionelle Handlungskompetenzen? Theoretische Grundlagen, Forschungsdesign und erste Ergebnisse. Zeitschrift für Geographiedidaktik, 43(4), 257-281.

Heller, M. (2018): «Die Neugierde und der ganzheitliche Blick auf die Welt müssen möglichst lange erhalten bleiben». Zitat entnommen aus: Furger, M. & Burri, A. (2018): Schule der Zukunft: Diese sechs Kompetenzen sollten Kinder erwerben. NZZ-Artikel vom 29.12.2018.

Hemmer, M., Hoffmann, K. W. & Mehren, M. (2020): Lehrerprofessionalität und Lehrerprofessionalisierung im Fach Geographie – Annäherungen aus geographiedidaktischer und schulpraktischer Perspektive. In: Hemmer, M., Lindau, A., Peter, C., Rawohl, M. & G. Schrüfer (Hrsg.) (2020): Lehrerprofessionalität und Lehrerbildung im Fach Geographie im Fokus von Theorie, Empirie und Praxis. Ausgewählte Tagungsbeiträge zum HGD-Symposium 2018 in Münster (= Geographiedidaktische Forschungen, Bd. 71). Nürnberg, S. 1 – 33.

International Charter on Geographical Education 2016: Zitiert nach: ENGAGEMENT GLOBAL und Bundesministerium für wirtschaftliche Zusammenarbeit (2019): Schulbücher für nachhaltige Entwicklung. Handbuch für die Verankerung von Bildung für nachhaltige Entwicklung (BNE), Bonn.

Hoffmann, K. W. (2012): Schulgeographie – quo vadis? Zur Gesellschaftsrelevanz eines standardbasierten Geographieunterrichts. In: Fassmann, H. und Glade, Th. (Hrsg. 2012): Geographie für eine Welt im Wandel. 57. Deutscher Geographentag 2009 in Wien, Göttingen 2012, S. 65-91.

Hoffmann, K. W. (2019): Erdkunde – Kernfach des 21. Jahrhunderts?! Ein lebendiges und zukunftsorientiertes Fach und wichtige Ressource für Menschen im 21. Jahrhundert. Impulsvortrag zur Eröffnung des Tags der Schulgeographie in Kiel am 27. September 2019. Internet: https://www.klett.de/alias/1130433

Hoffmann, K. W. (Hrsg.) (2021): Diercke. Lernaufgaben im Geographieunterricht. Sieben Phasen zur Schüleraktivierung. Braunschweig.

Hoffmann, Th. (2017): Beitrag des Geographieunterrichts zur Bildung für nachhaltige Entwicklung (BNE). https://www.klett.de/sixcms/detail.php?id=1119073 (25.11.2019)

Hoffmann, Th. (2018): Teaching the Sustainable Goals – Geschichten des Wandels. In: Zeitschrift für international Bildungsforschung und Entwicklungspädagogik. H. 2/2018, S. 27 – 34.

Uphues, R. (2013): Basiskonzepte. In: Obermaier, G., Böhn, D. (Hrsg.): Didaktische Impulse. Wörterbuch Geographiedidaktik. Begriffe von A-Z. Braunschweig, S. 22–23.

VEN, Verband Entwicklungspolitik Niedersachsen (o.J.): Weltwunder! Wandel statt Wachstum. Die Nachhaltigkeitsziele umsetzen. Bei dir. Bei uns. Weltweit. https://www.ven-nds.de/images/ven/projekte/weltwunder/SDGs-Fibel—Weltwunder-WandelstattWachstum.pdf (25.11.2019).

Weirer, W. & Paechter, M. (2019): Grundpfeiler kompetenzorientierter Didaktik. In: Fritz, U., Lauermann, K., Paechter, M., Stock, M., Weirer, W. (Hrsg.): Kompetenzorientierter Unterricht. Theoretische Grundlagen – erprobte Praxisbeispiele. Opladen, Toronto 2019, S. 19-41.