Im Kontrast zum vorherigen Teil zum Anthropozän in dieser kleinen Serie wird es durch das im Jahre 2018 erstmals publizierte Buch des Innovations- und Nachhaltigkeitsforschers Schneidewind, das auch den Untertitel Einführung in die Kunst des gesellschaftlichen Wandels trägt, wieder weniger unübersichtlich. Schneidewind verbindet ökologische, ökonomische und soziologische (natürlich ebenso philosophische) Gedanken miteinander und gliedert seine Abhandlung mit Nachhaltigkeit als kulturelles Projekt, Arenen und Akteure in drei Abschnitte, die von theoretischen Grundlagen aus immer mehr Praxisorientierung gewinnen. Leser*innen, die es folglich etwas bodenständiger und weniger experimentell mögen, sollten bei Schneidewind besser aufgehoben sein als bei Horn und Bergthaller, zumal Schneidewinds ca. 500 Seiten langes Buch nicht ganz so dicht verfasst ist und durch zahlreiche hilfreiche und orientierungsstiftende Graphiken besticht, die weiter unten erneut genauer aufgegriffen werden.
Das heißt jedoch nicht, dass Schneidewind nicht Großes vorhätte; seine Einführung in diese Einführung (S. 9-17) ist mit »Making Utopia possible« überschrieben und insbesondere die berufliche Biographie Schneidewinds ist äußerst spannend, denn das Mitglied der Grünen ist nach ca. zehn Jahren einer Präsidentschaft des Wuppertal Instituts für Klima, Umwelt und Energie aktuell Oberbürgermeister der Stadt Wuppertal. Damit steht auch Schneidewind auf eine spannende, d.h. letztlich administrative Weise zwischen Theorie und Praxis, woraus durchaus experimentelle Effekte – auch dazu unten mehr! – resultieren könnten.

Schneidewinds Buch ist Teil der Reihe „Forum für Verantwortung“, für die u.a. Harald Welzer die Verantwortung trägt, so dass es kaum verwundert, dass in seiner Konzeption einige Aspekte eine Rolle spielen, die innerhalb dieser Serie zum Transformationsdenken der Gegenwart insbesondere im zweiten Teil zum „Imagineering“ bereits eine Rolle spielten. Schneidewind ist ursprünglich Ökonom und nimmt immer wieder eine pragmatische Position ein, die sowohl auf den Wandel der praktischen Institutionen seiner Disziplin abzielt, als auch vor allem auf eine Transformation der Gesamtgesellschaft inklusive der Global Player der Weltwirtschaft. Seinen Begriff der „Großen Transformation“ (S. 9) leitet er von Karl Polanyi her, der Mitte des 20. Jahrhunderts eine Theorie der Veränderungen ökonomisch bedingter Kulturen verfasste. Im Anschluss an diese Großtheorie im Stil Max Webers entwirft auch Schneidewind ein umfassendes Panorama der insbesondere für nachhaltige Entwicklungen relevanten Aspekte und markiert seine Theorie konsequenterweise als integrativ, ökonomisch pluralistisch und akteursorientiert (vgl. S. 13). Der weite Blick Schneidewinds gilt dabei der Nachhaltigkeit als einem kulturellen Projekt (vgl. S. 23; 33f.), das zugleich aber einer „Zukunftskunst“ (S. 11) entspreche und als solche nonlineare Wirkungen auslösen und verstärken sollte. Diese Kunst des Transformierens zugunsten einer Zukunft aller umfasst logischerweise auch immer wieder Aspekte der Bildung, wenn z.B. das Ziel einer „(transformativen) »Literacy«“ (S. 11; vgl. auch S. 37ff.) ausgegeben und zum Abschluss des Buches noch einmal verstärkend aufgegriffen wird, worin erneut – s.o. – in Nähe zum „Imagineering“ betont wird, dass es – auch – Pionier*innen mit Vision brauche (vgl. S. 460ff.).
Eignung für unterrichtliche Umsetzung
Diese an Bildungsprozessen orientierte Haltung zeigt sich auch im Aufbau und in der konkreten Gestaltung des Buches. Einerseits dient es vor allem einem sachlich-strukturellen Informieren über komplexe Zusammenhänge; zugleich weist das lange Buch eine gewisse Textdidaktik auf, die auch für die Arbeit in der Schule – sei es in Geographie, Ethik oder anderen Fächern – sehr hilfreich sein kann. Die meisten Abschnitte haben einen Umfang von 10-20 Seiten und sind für Lehrer*innen sehr gut und effektiv als sachlicher Überblick zu erschließen. Zugleich wird darin die Perspektive auf die kulturelle Transformation konsequent mit naturwissenschaftlichen und soziologischen Thematiken verbunden. Einige Kernelemente dieses Zusammenhangs werden in kleinen Kästchen gebündelt, in denen etwa kulturelle Revolutionen oder der Kapitalismus (vgl. S. 51 bzw. 69f.) in durchaus gewagten, jedoch sehr handlichen definitionsartigen Passagen hervorgehoben werden oder in Abschnitten, in denen spannende Beispiele (zur Mobilität etwa vgl. S. 90ff.) herausgehoben und kontrovers zugespitzt werden. Vor allem gibt es wiederum einige hilfreiche Graphiken, die in ihrer diagrammatischen Qualität bestens für den Unterricht geeignet sein können (vgl. Abb. 1; 2):


Abb. 1: Ökologischer Rucksack eines Mobiltelefons, Abb. 2: Die elf Dimensionen guten Lebens der OECD
Zusätzlich werden gezielt ausgewählte Theoriemodelle integriert, wie etwa die fünf Phasen der moralischen Revolutionen nach Kwame Anthony Appiah: Ignoranz, eher abstrakte Anerkennung, persönlicher Bezug, Handeln und erstaunter Rückblick mit abweichender Bewertung des früheren Zustandes bzw. Verhaltens (vgl. S. 26ff.) oder auch knappe Aussagen zu den drei Mentalitäten der Idealisten, Institutionalisten und Inventionisten samt einer Begründung der Notwendigkeit ihres pragmatischen Zusammenspiels (vgl. S. 44-51).
Ohnehin besticht der Pragmatismus von Schneidewind, dem diese Gestaltung seines Buches auch nur in Teamwork mit einem großen Mitarbeiter*innenstab gelingen konnte, indem dieser immer wieder nicht nur ökonomisch informiert, sondern auch reflektiert ist und zugleich eine sehr große Umsicht beweist. Letztere zeigt sich in der Tatsache, dass er ebenso die Kirche als Global Player innerhalb der Zivilgesellschaft begreift (vgl. S. 314-322), kurz auf die Rolle des Journalismus für die Transformationskunst eingeht (vgl. S. 357), aber zugleich die Unternehmen selbst ausführlich mit einbezieht (vgl. S. 361-428). Hierbei scheint er es mitunter zu übertreiben, indem er speziell der durch Großkonzerne dominierten Digitalbranche optimistisch sehr viel zutraut (vgl. S. 98-103 und 420-428). Dort scheint ein wenig zu viel »Californian Culture« im Spiel zu sein. Allerdings macht Schneidewind nie den Fehler, den adressierten heterogenen Leser*innen ihr Urteil abzunehmen, was u.a. darin deutlich wird, dass er sich einerseits zwar auf Apologeten dieser Digitalkultur wie etwa Jeremy Rifkin beruft, zugleich aber mit Wolfgang Streeck auf einen der aktuell heftigsten Kritiker*innen des Kapitalismus und dessen Konsequenzen aus dem Coping, Doping, Hoping und Shopping (vgl. S. 88f. bzw. insgesamt: 54-106) Bezug nimmt. Auf welche Art genau, wie kritisch oder affirmativ, die Leser*innen zur Transformation tendieren, bleibt also ihnen selbst überlassen. Sehr deutlich macht Scheidewind wiederum die Tatsache, dass eine jede Veränderung lokal und praktisch beginnen muss, indem er mehrfach die Konzeption des Reallabors erklärt (vgl. S. 269ff.; 447ff.; 477ff.), wobei er als ein Beispiel Wuppertal anführt, ein Umstand, der die etwa 350000 Bewohner*innen dieser Stadt offenbar nicht davon abgehalten hat, den Autor dieses Buches zu ihrem Bürgermeister zu machen. Allein dies dürfte als ein großer Erfolg – speziell bezüglich einer Verknüpfung von Theorie und Praxis – zählen! Wer aber wird die nächste Bürgermeister*in oder Schulleiter*in, Verkehrsplaner*in bzw. Gestalter*in des öffentlichen Raums etc., die selbstbewusst jene Zukunftskunst betreiben will und kann, die am Ende der Einleitung wie folgt definiert wird:
„Zukunftskunst […bedeutet] auf der Grundlage einer transformative Literacy (d.h. dem Wissen um das Zusammenspiel von technologischen, ökonomischen, institutionellen und kulturellen Dynamiken) aktive Beiträge zur Gestaltung einer am Leitbild der Nachhaltigkeit orientierten Zivilisation zu leisten“ (S. 41).
Text: Florian Wobser (2021)
Bild: Freepik
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