Paul Virilio als Vertreter der Medienphilosophie – Zur Betrachtung von Geschwindigkeit und Raum

Der französische Architekt und Medienphilosoph Paul Virilio (1932-2018) beschäftigte sich mit den Auswirkungen von „Echtzeit-Technologien“ auf Kommunikationsprozesse in modernen Gesellschaften und damit verbundene Veränderungen von Wahrnehmungen von Räumlichkeiten, Zeitlichkeiten und den auf diese bezogenen Praktiken. Seine Arbeiten werden in der Regel der Medienphilosophie zugeordnet im Sinne einer philosophischen Auseinandersetzung mit medienpraktischen und medientheoretischen Fragestellungen. Paul Virilio ist allerdings kein klassisch ausgebildeter Philosoph. Seine Texte sind stark essayistisch geprägt, wobei sich der Autor große Freiheiten nimmt in den Bezügen, die er zu Disziplinen wie der Technikgeschichte, der Mediengeschichte, der Militärwissenschaft, der Urbanistik, der Physik und der Metaphysik herstellt.

Die Herausbildung der Medienphilosophie steht generell im Zusammenhang mit Entwicklungen, die sich seit Mitte des 20. Jahrhunderts in einem verstärkten Interesse für die kulturellen und politischen Aspekte von verschiedenen Informationsverarbeitungstechnologien, Kommunikationstheorien und Medienpraktiken erkennen lassen.

Virilios besonderer Fokus liegt auf der Frage, wie die Zunahme der Geschwindigkeit in der Übertragung von Informationen die Wahrnehmung des Raumes grundsätzlich verändert und welche Probleme damit verbunden sind. So gelten seine Reflexionen oder philosophischen Untersuchungen Umständen oder Ereignissen, die er in Folge der Verbreitung neuer Technologien und der damit verbundenen „Notwendigkeit“ ihres Einsatzes als technologische Unfälle betrachtet wie moderne Kriege bis hin zu Cyberkriegen oder auch das Scheitern des Internets als Mittel zur Förderung und Verbreitung von Demokratie. Seine Forschungsperspektive bezeichnet Virilio als Dromologie (gr. dromos Rennbahn und logos Wissenschaft).

Paul Virilios Beobachtung nach löst die Geschwindigkeit, die von „Echtzeit-Technologien“ hervorgebracht wird, letztlich die bis vor deren Auftreten üblichen Raumbezüge auf und verdichtet die Zeit zur „Jetzt-Zeit“. Den sogenannten dromologische Stillstand versteht Virilio als paradoxen Effekt, z. B.:

  • Die raumübergeifende Telekommunikation ermöglicht das Anwesendsein und den Wunsch nach Anwesendsein in immer mehr Räumen zugleich zum Preis des Verharrens an einem Ort – der Mensch kommt zum Stillstand.
  • Immer mehr Menschen verfügen über die Möglichkeit am Individualverkehr teilzunehmen, um zeitlich und räumlich flexibler zu sein und stehen am Ende täglich im Stau.
  • Je mehr Kommunikationsmedien und Kommunikationsplattformen zur Erleichterung und Beschleunigung von „qualitativ bedeutsamem“ Informationsaustausch wir benutzen, desto mehr nimmt die „Qualität“ von Kommunikationen ab, bis schließlich Software genutzt wird, die unsere Anwesenheit simuliert und selbst hervorgebrachte Kommunikationen durch technisch hervorgebrachte ersetzt – die „qualitativen Kommunikationen“ kommen zum Stillstand.

Didaktische Eignung und unterrichtlicher Einsatz

Paul Virilios Texte empfehlen sich schon deswegen für eine unterrichtliche Behandlung, weil sie zeitlich vor den Entwicklungen der digitalen Transformation der Gesellschaften entstanden sind, in denen wir heute leben. Da Virilio zum Zeitpunkt des Verfassens der Essays in den 1980er und frühen 1990er Jahren eine Vielzahl konkreter digitaler Artefakte (Smartphones, Tablets etc.) ebenso wenig kannte wie heute etablierte totale Kulturen der Digitalisierung (Pflege des Selbst auf Social-Media-Plattformen, Hacker-Kulturen, Cyberwar, satellitengesteuerte Verfolgung von Bewegungen im Raum etc.), tragen seine Texte stark prognostische Züge und verwenden hierbei gut nachvollziehbare einfache Metaphern und konkrete Bilder für das, was, z. B. der Soziologe Andreas Reckwitz in seinem Buch „Die Gesellschaft der Singularitäten“ für die von ihm als Spätmoderne bezeichnete Gegenwart beschreibt:

„Die digitalen Technologien transformieren, (d. h. definieren neu), was es heißt, ein Selbst zu sein. Sie unterwerfen des spätmoderne Selbst einer spezifischen Form von Singularisierung (d. h. Hervorbringung von Vereinzelung und Pflege der Einzigartigkeit), die es zugleich aktiv betreibt. Das Subjekt arbeitet nun an sich selbst als etwas Einzigartigem, und es wird von außen als etwas potentiell Singuläres betrachtet.“

(Reckwitz 2017, 244)

So mag der*dem heutigen Leser*in rückblickend stellenweise manches einfach erscheinen an Virilios Beispielen, andererseits gelingt dem Verfasser vielleicht klarer zu ordnen und zu strukturieren vor dem Horizont einer (teilweise) noch offenen Zukunft. Deshalb sind seine stellenweise sehr anspruchsvollen Texte bei einer Auswahl der stark konkreten Passagen für einen Unterrichtseinsatz ab der oberen Mittelstufe didaktisch wertvoll.

Der Essay „Revolutionen der Geschwindigkeit“ eignet sich für den Unterrichtseinsatz im Fach Philosophie/Ethik, in Unterrichtseinheiten zur medientheoretischen Grundbildung und empfiehlt sich auch als Hintergrund für den Geographieunterricht zu Prozessen der Globalisierung, da die „informations- und kommunikationstechnologische Dauerrevolution“ (Beck 1992, 27) die Voraussetzungen bildet für Globalität im Sinne der Auflösung geschlossener Räume:

Wir leben längst in einer Weltgesellschaft, und zwar in dem Sinne, dass die Vorstellung geschlossener Räume fiktiv wird. Kein Land, keine Gruppe kann sich gegeneinander abschließen. Damit prallen die verschiedenen ökonomischen, kulturellen, politischen Formen aufeinander, und die Selbstverständlichkeiten, auch des westlichen Modells, müssen sich neu rechtfertigen. […] „Welt“ in der Wortkombination „Welt-Gesellschaft“ meint demnach Differenz [und] […] Vielheit ohne Einheit […].

(Beck 1992, 26)
Paul Virilio (1993). Revolutionen der Geschwindigkeit. Internationaler Merve Diskurs: Perspektiven der Technokultur.

Virilio ist der Speedfreak unter den Denkern. Er unterscheidet drei Revolutionen der Geschwindigkeit:
- das Transportwesen im 19. Jahrhundert
- die Transmissions- oder Übertragungsmedien im 20. Jahrhundert
- und die künftige Revolution der Transplantationen. 
(Quelle: https://www.merve.de/index.php/book/show/209)

Paul Virilios Thesen zur gesellschaftlichen Transformation aus der Perspektive der „Dromologie“

Im Folgenden werden Paul Virilios Thesen kurz zusammengefasst und erläutert – zu jeder These wird eine Folie zur Verfügung gestellt, die als Tafelanschrift verwendet werden kann; alle Darstellungen werden zudem als sich entwickelnde PP-Präsentation zur Verfügung gestellt, die auf die eigenen Bedürfnisse des unterrichtlichen Durchgangs hin angepasst werden kann.

Selbstverständlich ist es sinnvoll, die Thesen Schritt für Schritt zu entwickeln, indem zusätzliche selbst gewählte Bilder und Filmausschnitte zu Veranschaulichung, weitere Texte als Diskussionsgrundlage etc. eingesetzt werden. Das folgende Video von Maximilian Bopfinger, Christian Bettke, Claudia Toth-Pinter fasst Virilios Thesen stark verkürzt zusammen und sollte deshalb eher für einen Rückblick auf das gemeinsam Erarbeitete eingesetzt werden.

Autor*innen: Maximilian Bopfinger, Christian Bettke, Claudia Toth-Pinter

These 1: Die Geschichte der Menschheit lässt sich als endloser Wettlauf mit der Zeit beschreiben.

Im ersten Teil seines Bandes entwickelt Virilio die grundlegene These, dass sich die Geschichte der Menschheit als ein endloser Wettlauf mit der Zeit beschreiben lasse. In diesen Abschnitten führt er Beispiele dafür an, dass militärische Ziele wie das Überbringen von Nachrichten und der Transport von Militärmitteln durch den Raum dem Erlangen von Zugriff auf Territorien diente. Der Einsatz von Maschinen zur Geschwindigkeitssteigerung führt schrittweise zur 1. Revolution der Geschwindigkeit. Die Militärtechnologie bringt auch das Internet hervor, dessen militärische Forschungsförderung Ende der 1970er Jahre durch eine akademischen Forschungsförderung ergänzt wird, womit das Wachstum und die internationale Ausbreitung des Internets beginnt. Nach der Abschaltung des militärischen Arpanet begann ab 1990 die kommerzielle Phase des Internets, womit die sogenannte 2. Revolution der Geschwindigkeit ihre Ausbreitung nimmt. Die Orientierung an einer Steigerung der Geschwindigkeit erfasst schließlich alle Alltagsbereiche in modernen Gesellschaften.

Schnellere Autos, schnellere Bahnen, schnellere Flugzeuge… Unser Zeitalter ist besessen von der Geschwindigkeit. Die Straßen der Innenstädte sind zu gefährlichen Rennpisten geworden, die Vorstädte zu Park-and-Ride-Zonen, die Gebiete zwischen den Städten zu Schnellstraßen, Schienenwegen, Startbahnen. Tempo. Hektik und Stress prägen den Arbeitsalltag. Und selbst in den Ferien wissen wir nichts Besseres zu tun, als die Raserei fortzusetzen: als Skifahrer auf den zu schiefene Ebenen reduzierten Bergen, als Surfer auf den glatten Oberflächen der Flüsse und Seen, als Reisende, die sich gleichsam selbst zum Projektil machen und an den Ort ihrer Bestimmung schießen lassen. Die Geschwindigkeit ist die Göttin dieser Tage, und die Zahl der Opfer, die man ihr Jahr für Jahr bringt, bewegt sich allein in Europa in der Größenordnung mehrerer Kleinstädte. Und doch, wie wenig wissen wir von der Geschwindigkeit!

Breuer, Stefan. “Der Nihilismus Der Geschwindigkeit: Zum Werk Paul Virilios.” Leviathan, vol. 16, no. 3, Nomos Verlagsgesellschaft mbH, 1988, pp. 309–30, http://www.jstor.org/stable/23983436.

These 2: Geschwindigkeit bei weltweiter Informationsverbreitung bedeutet nicht zwangsläufig eine Stärkung der Demokratie.

Im nächsten Schritt wendet sich Virilio der positiven Utopie zu, die mit der weltweiten Informationsverbreitung verbunden ist, dass die Welt quasi zu einem globalen Dorf werde und die Informationsverbreitungsnetze zu einer Stärkung der Demokratie beitragen würden. In der Zeit, in der Virilio schrieb, galt das noch weithin als unbestreitbare Tatsache, während heute die sogenannten Schattenseiten vermeintlich allgegenwärtiger und freier Verfügbarkeit von Informationen deutlich geworden sind.

Virilio gibt zu bedenken, dass sich im weltweiten Netz neue Machtzentren bilden werden, die die Verbreitung von Informationen entweder über die schiere Menge an verteilter Information oder durch die Verwaltung zentraler Knotenpunkte kontrollieren. Im folgenden Arte-Beitrag aus der Reihe „Mit offenen Karten“ wird diese Prognose Virilios thematisiert:

Geopolitik der sozialen Netzwerke

These 3: Der Mensch, der selbst die Geschwindigkeit hervorgebracht hat, kommt zum Stillstand.

Im dritten Abschnitt seiner Ausführungen zur der Steigerung der Geschwindigkeit in allen Alltagsbereichen moderner Gesellschaften nimmt Virilio den Menschen in den Blick. Da der Mensch nach dem Gesetz, dass höhere Geschwindigkeiten niedrigere Geschwindigkeiten erst ausgrenzen und dann verdrängen, zu langsam ist, kommt er am Ende zwangsläufig selbst zum Stillstand. Er verharrt hinter den Bildschirmen digitaler Endgeräte und verlässt nicht mehr den Raum, da seine Interaktionen mit anderen in den digitalen Raum verlegt werden. Seine eigenen Raumerfahrungen entfernen sich immer mehr von Erfahrungen in Räumen, die nicht in einer digitalisierten Form zur Verfügung stehen oder er bewegt sich nur noch in Räumen, die ausschließlich in digitalisierter Form erschaffen wurden. Da andere Menschen ebenfalls zu langsam sind, übernehmen immer mehr technische Maschinen die Funktion von Interaktionspartnern und bringen selbst Kommunikationen hervor, in die Menschen in kontrollierter Form eingebunden werden durch die Verwalter der neuen Machtzentren im Netz.

These 4: Die Echtzeittechnologien schaffen eine völlig neue Weltanschauung.

So wird, nach Virilio, eine neue Weltanschauung geschaffen. Damit meint er zum einen die Art und Weise, Welt zu schauen und zum anderen Arten und Weisen der Weltanschauung oder Weltbilder. Heute würde wir dies als digitale Transformation der Gesellschaft bezeichnen, womit neben der Digitalisierung als binäre Repräsentation von Texten, Bildern, Tönen, Filmen sowie Eigenschaften von Objekten, die zu neuen Arten der Anschauung führen und neue Praktiken der Anschauung, Informationsverarbeitung usw. hervorbringen, auch ein Wandel der Kultur, z. B. ein Wandel normativer Ansprüche an wechselseitige Beziehungen, verbunden ist. Dieser Wandel führt auf Grund der Permanenz und Ubiquität digitaler Technologien zu Anpassungsforderungen an alle Nutzer*innen digitaler Technologien. Virilio verwendet hierzu die Metapher der Sonne des Videosignals: Das Videosignal steht für Permanenz und Ubiquität im oben skizzierten Sinne, die echte Sonne hingegen bringt Tages- und Nachverläufe hervor und ordnet so Praktiken dem Rhythmus von Tag und Nacht zu. Die Sonne des Videosignals löst durch den normativen Charakter der Teilnahme an der planetarischen Augenblicklichkeit zuvor etablierte Zeit-Rhythmen menschlichen Lebens auf.

Zusammenfassung zur Welt aus der Sicht Paul Virilios

  • Der alte Traum des Menschen, an mehreren Orten zugleich sein zu können, ist durch das Internet Wirklichkeit geworden.
  • Die rasante Kommunikationsgeschwindigkeit in unserer vernetzten Welt hat unser wirtschaftliches, kulturelles und politisches Leben völlig auf den Kopf gestellt.
  • Die Welt, in der wir leben, ist ein „Kind der Geschwindigkeit“.
  • Die Digitalisierung der Welt führt zu dem Problem der Unvermeidbarkeit „digitaler Unfälle“: Erstmals in der Geschichte der Menschheit ist die Technik schneller als der Mensch.
  • Die Möglichkeit, virtuell an verschiedenen Orten gleichzeitig zu sein führt zu einer Ent-Räumlichung und Ent-Zeitlichung des Seins, wie wir es kennen.

Die Dromologie ist ein Kind des Krieges

Fortschritt und Katastrophe sind die zwei Seiten einer Medaille.

Paul Virilio in „PAUL VIRILIO. DENKER DER GESCHWINDIGKEIT“ (ARTE-Dokumentation, 2015)
Das Video ist das Ergebnis des Seminars „Visualisierung von Medientheorien“ an der Hochschule Düsseldorf. Es wird eine kurze Inhaltliche Zusammenfassung von Paul Virilios „Lehre von Geschwindigkeit“ gezeigt unter der Perspektive des Krieges als Quelle der Hervorbringung von Geschwindigkeit.

Text & Unterrichtsmaterial: Stefan Applis (2022)

Literatur:

Ulrich Beck (1992). Was ist Globalisierung? (=Edition Zweite Moderne) Suhrkamp: Frankfurt/Main.

Andreas Reckwitz (2017). Die Gesellschaft der Singularitäten. Suhrkamp.

Paul Virilio (1993). Revolutionen der Geschwindigkeit. Internationaler Merve Diskurs: Perspektiven der Technokultur.