Plattformurbanismus – Modernisierungsversprechen technologieoptimistischer Stadtentwicklung
In Ihrem Beitrag „Konturen eines Plattform-Urbanismus“ für das Open-Access-Journal „sub|urban“ analysieren Sybille Bauriedl & Henk Wiechers Entwicklungen, die durch internationale IT-Konzernen vorangetrieben werden, um die Ausbildung digitaler Infrastrukturen im öffentlichen Raum zu unterstützten: Smart Cities sollen die urbane Lebensqualität verbessern. Der gesamte Prozess wird in der Stadtforschung als Plattformurbanismus bezeichnet.
Bauriedl, S., Wiechers, H. (2021): Konturen eines Plattform-Urbanismus. Soziale und räumliche Ausprägungen eines digital divide am Beispiel Smart Mobility. In: sub\urban – Zeitschrift für kritische Stadtforschung 9(1/2): 93-14.
Bereits zu Beginn fokussieren die Autor*innen die politisch-ethische Perspektive ihrer Analyse und nehmen ihr zentrales Ergebnis vorweg: Plattformvermittelte Mobilitätsangebote trennen eher, als dass sie Ungleichheit ausgleichen – damit wird das zentrale Versprechen „sich ausweitender Beteiligung durch bequemer integrierbare Abläufe und eine allgemein höhere Informiertheit der Bürger und Bürgerinnen“ (Tiel 2021) nicht erfüllt:
Der Beitrag geht von der These aus, dass Smart-City-Infrastrukturen und -Dienstleistungen räumlich exklusiv realisiert werden. Er stellt am Beispiel von Smart Mobility in europäischen Städten die vielfältigen plattformvermittelten Mobilitätsangebote vor und diskutiert, welche Nachfrage sie ansprechen und ob damit urbane Mobilitätsdefizite und sozialräumliche Segregation behoben werden können oder aber durch einen ungleichen Digitalisierungszugang Mobilitätsungerechtigkeit verstärkt wird. Diese Frage wird mit Referenz auf Studien zu Geschlechterverhältnissen im Mobilitätsalltag diskutiert und dient als Grundlage für unsere Abschlussthesen, die die Folgen von Standardisierung, Normierung und Universalisierung als Merkmale des Plattformurbanismus in Europa kritisch beleuchten.
Bauriedl & Wiechers (2021, S. 93)
Plattform-Urbanismus als Ausdruck einer technokapitalistischen Modernisierung von Städten
Im ersten Teil ihres Textes erläutern die Autor*innen, auf welche Weise digitale Plattformen in immer mehr private und öffentliche Lebensbereiche vordringen: Plattformen vermitteln zwischen Angebot und Nachfrage Informationen (z. B. Stadtpläne, Wetterprognosen), Arbeitsleistungen (z. B. Lieferdienste, Fahrdienste), temporäre Nutzungsrechte (z. B. für Fahrzeuge) und Güter (z. B. Gebrauchtwarenversteigerung), womit soziale Interaktionen in weiten Teilen auch der zivilgesellschaftlichen Kontrolle entzogen werden (vgl. Bauriedl & Wiechers 2021, S. 95).
Auch wenn Unternehmen wie Uber oder Airbnb sich als reine Technologieunternehmen präsentieren, die Plattformen bereitstellen, sind sie auch Transport- und Immobilien unternehmen und nehmen über ihre Algorithmen Einfluss auf Konsument_inneninteressen, Arbeitsverhältnisse und Hotspots ihrer Dienstleistungen in den Städten, in denen sie ihre Dienste anbieten (dürfen). Die Algorithmenprogrammierung nimmt eine Selektion darüber vor, was Kund_in nen zu sehen bekommen, und lässt das dahinterliegende Geschäftsmodell nur schwer erkennen.
Bauriedl & Wiechers 2021, S. 96
So seien bestimmte Geschäftsmodelle wie Carsharing für sich nicht profitabel, die Organisation der Vermittlung ziele entsprechend auf „Netzwerkeffekte [ab] durch die Ausweitung der Dienste, auf Markendominanz durch die Sichtbarkeit neuer Fahrzeugmodelle in Großstädten und auf die Vermarktung von Beiprodukten (insbesondere personifizierter Bewegungsmuster)“ (Bauriedl & Wiechers 2021, ebd.).
User*innen werden entsprechend vor allem als Datenproduzent*innen betrachtet. Die digitale Transformation des Kapitalismus, die sich seit der globalen Finanzkrise 2007/08 verstärkt vollzieht, wurde von Nick Srnicek als „platform capitalism“ (Srnicek 2016) bezeichnet – „in der kritischen Plattformforschung wird auch der Begriff Technokapitalismus verwendet, um die sozialräumlichen Transformationen des urbanen Alltagslebens zu rekonstruieren (Sadowski 2020)“ (Bauriedl & Wiechers 2021, ebd.).
Die zunehmende Plattformisierung (platformization) des Alltags wirft die Frage auf, wer für die Verankerung öffentlicher Werte in einer Platt formgesellschaft verantwortlich ist oder sein sollte. Dazu gehören individuelle Privatsphäre und Datensicherheit genauso wie die Berücksichtigung öffentlicher Interessen wie Fairness, Zugänglichkeit, demokratische Kontrolle, Transparenz und Rechenschaftspflicht. Um diese Werte konkurrieren in der Plattformgesellschaft Privatwirtschaft, Regierung und Zivilgesellschaft (van Dijck et al. 2018).
Bauriedl & Wiechers 2021, S. 97
Entwicklungslinien vernetzter Mobilität in Europa & Probleme des Zugangs zu Smart-Mobility-Angeboten
Die Autor*innen analysieren diese Prozesse im Folgenden differenziert am Beispiel von Mobilitätsplattformen – diese stehen stehen exemplarisch für einen ausdifferenzierten und im Umbruch befindlichen Mobilitätssektor (vgl. Bauriedl & Wiechers 2021, S. 98ff.).


Die Autor*innen kritisieren, dass die Mobilitätsdebatte in großen Teilen von „Aussagen zu den positiven Potenzialen technologischer Innovationen geprägt“ sei (vgl. nachhaltiger Umgang mit begrenzt verfügbaren Ressourcen), während die „notwendigen sozialen Transformationen (gerechter Ressourcenzugang) vernachlässigt“ werden (vgl. Bauriedl & Wiechers 2021, S. 102); hierbei fokussieren sie die Frage, auf welche Weise durch die von großen Konzernen dominierten Angebote Mobilitätsinsfrastrukturen umgestaltet werden, um den Zusammenhang zwischen sozialer Ausgrenzung und Mobilität aufzuzeigen (vgl. im Folgenden Bauriedl & Wiechers 2021, S. 102-103:
- physische Ausgrenzung: zum Beispiel durch das Design des Fahrzeugs;
- geographische Ausgrenzung: etwa durch die Wohnlage im suburbanen oder ländlich-peripheren Raum und die Zerschneidung der Stadt durch Schnellstraßen;
- Ausgrenzung von zentralen Einrichtungen: So kann etwa der Zugang zu Schulen oder Gesundheitseinrichtungen durch große Entfernungen zu diesen erschwert werden;
- ökonomische Ausgrenzung: zum Beispiel durch hohe fixe und/oder flexible Mobilitätskosten;
- zeitbasierte Ausgrenzung: etwa der Zeitmangel für Mobilität (time poverty) verursacht durch die Doppelbelastung von Lohn- und Care-Arbeit;
- Ausgrenzung durch Angst: zum Beispiel bei Sicherheitsbedenken und/oder Gewalterfahrungen im Zusammenhang mit spezifischen Transportmitteln oder -wegen;
- räumliche Ausgrenzung: zum Beispiel durch Gated Communities.
Es ist wichtig zu sehen, dass den einzelnen Ausgrenzungsaspekten kommt je nach gesellschaftlichem Kontext und sozioökonomischer Positionierung der jeweiligen Person oder Personengruppe verschieden große Bedeutung zukommt und sich „Ausgrenzungserfahrungen und -praktiken überlagern und dadurch für spezifische Situationen, Tageszeiten oder Räume potenzieren“ (Bauriedl & Wiechers 2021, ebd., im Folgenden S. 104):
- Die Teilhabe an vernetzten Mobilitätsdienstleistungen ist voraussetzungsvoll. Neben dem Besitz eines Smartphones sind auch Zugang zu und Kenntnis von Ressourcen wie der Nutzung einer Kreditkarte oder der Verfügung über ein Bankkonto sowie eine Meldeadresse Bedingung. Diese Wissensbestände und materiellen wie institutionellen Zugänge sind gesellschaftlich sehr ungleich verteilt. Die Wissensbestände im Umgang mit digitalen Technologien weisen außerdem eine deutliche Generationenkluft auf.
- Plattformbasierte Mobilitätsdienstleistungen sind auf eine technik- und digitalisierungsaffine, erwerbstätige Personengruppe ausgerichtet. Kate Pangbourne et al. (2020: 44) beschreiben diese als „urbane Elite, die es sich leisten kann“.
- Die Teilhabe an den beschriebenen Plattformen bedarf einer bereitwilligen Freigabe von persönlichen Daten bei der Registrierung und gewährt dem Betreiber der intermediären Plattform damit – im Rahmen mehr oder weniger weitreichender Regulierungen – den personalisierten Zugriff auf Bewegungsdaten mittels permanenter Ortung in der jeweiligen Anwendung.
Zudem zeige die feministische Mobilitätsforschung seit den 1970er Jahren vier Ungleichheitsstrukturen als entscheidend für vergeschlechtlichte Mobilitätsformen auf:
- Geschlechtliche Arbeitsteilung, die durch einen höheren Frauenanteil in der Teilzeitarbeit und im Niedriglohnsektor mehr Kurzstreckenmobilität von Frauen als Folge hat. Zudem führt die stärkere Belastung mit un bezahlter Sorgearbeit zu einem höheren Frauenanteil bei der Versorgungs-mobilität, die mit komplexen Wegeketten und mehr multimodaler Mobilität von Frauen verbunden ist. Mehrheitlich in Vollzeit lohn arbeitende Männer verfolgen größtenteils Start/Ziel-Wege zu Haupt verkehrs zeiten mit längeren Wegstrecken (Uteng 2011);
- sexistische Belästigungen gegenüber Frauen, die ein besonderes tageszeitspezifisches Sicherheitsbedürfnis von Frauen im öffentlichen Raum und die Vermeidung von als gefährdend empfundenen Mobilitätsformen zur Folge haben;
- vergeschlechtlichter Status von Verkehrsmitteln, der Automobilität mit männlicher Freiheit, Unabhängigkeit und Schutz der Familie assoziiert und große, schnelle Autos eher mit Männlichkeit und kleine, praktische Autos eher mit Weiblichkeit konnotiert;
- geschlechtliche Einkommensunterschiede, die die hohen Anschaffungskosten von Privatfahrzeugen eher für Männer ermöglichen und Frauen eher auf den öffentlichen Transport oder nichtmotorisierte Mobilität angewiesen machen, die keine fixen Kosten verursachen, aber höhere flexible Kosten erzeugen.
Da Mobilitätsplattformen über „das Abschöpfen von Bewegungsprofilen der Nutzer_innen, auf die weitere Angebote abgestimmt werden [, ] tritt ein sich selbst verstärkender Prozess ein, der allein spezifische soziale Gruppen und urbane Identitäten sowie deren Mobilitätsbedürfnisse anspricht. Solange die Bewegungsmuster etwa von Sorgearbeiter_innen unsichtbar bleiben und Carsharing nach bewährtem Muster angeboten wird, verstärkt sich der gendered digital gap (Strüver/Bauriedl 2020; Alonso-Almeida 2019: 38).“ (Bauriedl & Wiechers 2021, S. 107) Damit werde das demokratische Wert-Ideal einer Mobilität für alle durch Firmeninteressen und die zu deren Verfolgung eingesetzten Plattformalgorithmen ausgehöhlt.
Didaktisch-methodische Hinweise – Anregungen zur Bearbeitung im Unterricht
Der vorgeschlagene Beitrag stellt sehr klar strukturiertes Wissen sowohl zur faktischen als auch zur ethischen Komplexität von Prozessen zur Verfügung, die den urbanen Raum umgestalten, indem sie relevante Facetten von Privatheit und Öffentlichkeit neu definieren und dabei in vielen Bereichen die Trennung von Privatheit und Öffentlichkeit außerhalb zivilgesellschaftlicher Kontrolle aufheben. Dabei kann auf der Ebene der Wissenserarbeitung und Wissensvermittlung das Verstehen, Erschließen und Diskutieren der oben angeführten Teilfacetten von Mobilitätssteuerung, Mobilitätskontrolle und Mobilitätszugangsbeschränkungen zu Lernzielen des Unterrichts gemacht werden.
Die Verfasser*innen indentifizieren in ihrem Beitrag zudem fünf Diskurse zu europäischen Smart Cities, die mit der „Präferenz für Carsharing, Ridepooling und perspektivisch mit dem vollautomatisierten Fahren auf dem Pfad der ‚autogerechten Stadt‘“ (Bauriedl & Wiechers 2021, S. 108) digitale Mobilitätsinfrastrukturen im Sinne von technokapitalistischen Perspektiven fixieren. Diese können innerhalb arbeitsteiliger Gruppenarbeit oder einer umfangreicheren Projektarbeit reflektiert werden – hierbei wären Beispiele für Entwicklungen zu sammeln, die die darin enthaltenen Thesen stützen oder entwerten und eigene Utopien zu entwerfen im Sinne lebenswerter urbaner Räume unter möglicher Beiteiligung aller Bevölkerungsgruppen.
‚Stadt ohne Ränder‘
Selektive Raumwahrnehmung von Plattformunternehmen
‚Stadt als Ort ohne Eigenschaften‘
Universalisierung der Plattformdienstleistungen
‚Stadt als Folie‘
Standardisierung der Stadtzukunft durch Mobilitätsplattformen
‚Stadt(-gesellschaft) ohne Vielfalt‘
Normierung von urbanen Identitäten durch Plattformen
‚Stadt als Utopie‘
Reproduktion der Zukunftsvisionen der Moderne
Mit unserem Befund, dass Smart-Mobility-Plattformen soziale Ungleichheit in Städten eher verschärfen als ausgleichen, befinden wir uns in guter Gesellschaft. Kritische Stadtforscherinnen üben seit einigen Jahren eine fundamentale Kritik an einer algorithmenbasierten und durch IT-Konzerne geprägten Stadtentwicklung. Dies ist jedoch nicht per se digitalisierungsfeindlich oder technikdystopisch. Die Autor_innen kritisieren die Priorisierung einer technologischen Transformation ohne explizite Strategien für eine sozial gerechte Transformation und betonen die emanzipatorischen Potenziale in digitalen Raumpraktiken. Rob Kitchin (2018: 2) folgert aus seiner Kritik des smart urbanism, dass es notwendig sei, sich Smart Cities neu vorzustellen, neu zu rahmen und neu zu gestalten („reimagine, reframe and remake smart cities“), um Urbanisierung mit Fairness, Gerechtigkeit, Ethik und Demokratie verbinden zu können.
Bauriedl & Wiechers 2021, S. 110
Text: Stefan Applis (2022)
Bild: Mobile application vector created by sentavio – www.freepik.com

Autor*innen
Sybille Bauriedl ist Geographin mit den Arbeitsschwerpunkten Klimagerechtigkeit, digitale Transformation, Energiewende, Politische Ökologie, feministische Geographie und post-koloniale Geographie.
Henk Wiechers ist Stadtgeograph. Seine Arbeitsschwerpunkte sind Wohnungslosigkeit, Digitalisierung und qualitative Forschungsmethoden.
Literaturauswahl
Alonso-Almeida, María del Mar (2019): Carsharing. Another gender issue? Drivers of carsharing usage among women and relationship to perceived value. In: Travel Behaviour and Society 17, 3645.
Kitchin, Rob (2018): Towards a genuinely humanizing smart urbanism. The programmable city working paper 42.
Pangbourne, Kate / Mladenović, Miloš N. / Stead, Dominic / Milakis, Dimitris (2020): Questioning mobility as a service. Unanticipated implications for society and governance. In: Transportation Research Part A: Policy and Practice 131, 3549.
Sadowski, Jathan (2020): Who owns the future city? Phases of technological urbanism and shifts of sovereignity. In: Urban Studies, 1-13. https://doi.org/10.1177/0042098020913427
Srnicek, Nick (2016): Platform capitalism. Cambridge, Malden: Polity Press.
Strüver, Anke / Bauriedl, Sybille (2020): Smart Cities und sozialräumliche Gerechtigkeit. Wohnen und Mobilität in Großstädten. In: Christine Hannemann / Frank Othengrafen / Jörg Pohlan / Brigitta Schmidt-Lauber / Rainer Wehrhahn / Simon Güntner (Hg.), Jahrbuch StadtRegion 2019/2020. Schwerpunkt: Digitale Transformation. Wiesbaden: Springer, 91-112.
Uteng, Tanu Priya (2011): Gendered bargains of daily mobility. Citing cases from both urban and rural settings. The World Bank.
van Dijck, José / Poell, Thomas / De Waal, Martijn (2018): The platform society. Public values in a connective world. Oxford: Oxford University Press.