In seinem Beitrag Politische Sozialisation und Computerspiele im Themenbereich „Popkultur“ auf prae|faktisch.de behandelt der Philosoph Wulf Loh ein bestimmtes Bild von Politik, das Computerspiele transportieren, indem sie politische Werte, Legitimationsmechanismen und -strategien, Aushandlungsprozesse, Machtverteilungen und -ungleichgewichte usw. auf eine bestimmte Weise darstellen und so einen Beitrag zur politischen Sozialisation leisten. Dies liegt zum einen an der Darstellung bestimmter Szenarien innerhalb von Computerspielen, die von Krieg, politischen Krisen, Failed States oder Nachkriegsgesellschaften handeln und zum anderen an der Bevorzugung bestimmter Verhandlungsstrategien (z. B. vereinfachte utlitaristische Abwägungen, Legitimierung des Rechtes der*des Stärkeren).
Von anderen Medien unterscheiden […] sich [Computerspiele] […] nach landläufiger Meinung durch ihre höhere Immersivität und Interaktivität. Dies wirft die Frage auf, ob Computerspiele aufgrund ihrer besonderen Belohnungsstrukturen und ihrer ‚aktionalen Involvierung‘ (Neitzel 2012) die Medienkompetenz der Nutzer:innen vor größere Herausforderungen stellen und daher in besonderer Weise Rückwirkungen auf deren demokratische Sozialisation und Sozialintegration als Citoyens haben können.
Wulf Loh (2022). Politische Sozialisation und Computerspiele. prae|faktisch.de
Im Zusammenhang mit einer verzerrten „public pedagogy“ des Politischen in Computerspielen macht Loh vier demokratietheoretische Befürchtungen aus:
- Die Gefahr der Selbstaufgabe individueller politischer Autonomie von Bürger*innen als demokratische Mitautor*innen der sie betreffenden Gesetze.
- Die Erosion der sozialintegrativen Wirkung von Demokratie und damit eine zunehmende gesellschaftliche Polarisierung und Fragmentierung.
- Die Unterminierung des demokratischen Gleichheitsprinzips, sofern als Ergebnis eines Rückzugs größerer Teile des Elektorats aus der politischen Partizipation die Wahlbeteiligung bestimmte Prozentzahlen unterschreitet.
- Der verstärkte Zulauf zu populistischen Protestparteien, die damit ihre häufig antiliberale und antidemokratische Politik öffentlichkeitswirksam propagieren, in den politischen Diskurs einspeisen oder in Regierungsbeteiligung umsetzen
Unterrichtliche Relevanz
Insgesamt lässt sich mit dem Autor festhalten, „dass Computerspiele als immer wichtigerer Bestandteil eines immer digitaler werdenden Medien-Mixes zunehmend Inhalte einer ‚public pedagogy‘ bereitstellen, ‚through which we learn to read and engage others and the world around us’“‘ (Trifonas 2010, S. 180).“ Damit wird die unterrichtliche Reflexion politisch-raumbezogener Konstruktionen und der damit verbundenen politisch-ethischen Wertungen relevant für Politik-, Geschichts-, Geographie- und Ethikunterricht. Insgesamt können in dieser Hinsicht die folgenden Fragestellungen untersucht werden:
- Welche politischen Räume werden konstruiert? (z. B. Kriegsräume, politische Krisenräume, Umweltkrisen, Failed States, dystopische Nachkriegsgesellschaften)
- Welche politischen sozialen Praktiken werden bevorzugt und legitimiert? (z. B. Hinterzimmer- und Verschwörungsszenarien, Intrigen, Putschversuche, Aufstände und Revolutionen)
- Welche Handlungslogiken werden vorgeschlagen und belohnt? (z. B. vereinfachte utlitaristische Abwägungen, Legitimierung des Rechtes der*des Stärkeren)
- Welche vereinfachten politischen, geographischen und wirtschaftlichen Szenarien werden inszeniert? (z. B. Ressourcenbereitstellung und -verteilung, Wirtschaftslogiken in der Darstellung internationaler Handelsbeziehungen)
Insbesondere Kinder und Jugendliche werden immer mehr – auch politisch – über Computerspiele sozialisiert. Laut einer Bitkom-Studie aus dem Jahr 2014 spielen in Deutschland über 90% aller Jugendlichen zwischen 10 und 18 Jahren, je nach Kohorte bis zu zwei Stunden täglich (Holdampf-Wendel et al. 2014). Diese Zahlen dürften gerade während der Pandemie noch einmal gestiegen sein (May 2021). Dies gilt jedoch nicht nur für den Lern- bzw. Sozialisationsprozess von Kindern und Jugendlichen: Auch erwachsene Spieler:innen korrigieren oder reproduzieren ihre geteilte Lebenswelt in Auseinandersetzung mit den Darstellungen von Politik, des politischen Prozesses und der Zielvorstellungen politischer Akteure, denen sie ausgesetzt sind.
Wulf Loh (2022). Politische Sozialisation und Computerspiele. prae|faktisch.de
Der Verfasser liefert einen klar strukturierten, die gängigen Thesen zu sozialisationsbezogenen Wirkungen von Computerspielen darstellenden und abwägenden Beitrag. Darüberhinaus stellt er im Literaturverzeichnis umfangreiche aktuelle wissenschaftliche analytische und empirische Beiträge zur Verfügung, von denen aus Unterrichtsarrangements gestaltet werden können.
Text: Stefan Applis (2022)
Bild: Image by DCStudio on Freepik
Im Beitrag verwendete Literatur
Bopp, Matthias (2006): Immersive Didaktik und Framingprozesse in Computerspielen. In: Neitzel (Hg.): Das Spiel mit dem Medium. Partizipation, Immersion, Interaktion. Marburg, S. 170–186.
Breitlauch, Linda (2012): Conceptual design for serious games regarding didactical and playfully requirements. In: Wimmer et al. (Hg.): Applied Playfulness. Wien, S. 91–97.
Cuddy, Luke; Nordlinger, John (Hg.) (2009): World of Warcraft and philosophy. Chicago.
Holdampf-Wendel, Adél et al. (2014): Jung und vernetzt. Kinder und Jugendliche in der digitalen Gesellschaft. BITKOM. Berlin. https://www.bitkom.org/noindex/Publikationen/2014/Studien/Jung-und-vernetzt-Kinder-und-Jugendliche-in-der-digitalen-Gesellschaft/BITKOM-Studie-Jung-und-vernetzt-2014.pdf.
May, Olaf (2021): Die Gaming-Trends 2021. BITKOM. Berlin. https://www.bitkom.org/Presse/Presseinformation/Halb-Deutschland-spielt-Video-oder-Computerspiele.
Neitzel, Britta (2012): Involvierungsstrategien des Computerspiels. In: GamesCoop (Hg.): Theorien des Computerspiels. Hamburg, S. 75–103.
Ryan, Marie-Laure (2001): Narrative as virtual reality. Immersion and interactivity in literature and electronic media. Baltimore.
Strahringer, Susanne; Leyh, Christian (Hg.) (2017): Gamification und serious games.. Wiesbaden.
Tavinor, Grant (2009): The art of videogames. Malden.
Trifonas, Peter (2010): Digital Literacy and Public Pedagogy. The Digital Game as a Form of Learning. In: Brian D. Schultz, Jennifer et al. (Hg.): Handbook of public pedagogy. New York, S. 179–184.