Testergebnisse verraten kaum mehr über spätere Examensnoten von Schülerinnen und Schülern als die persönliche Einschätzung durch Lehrende
Manche Prüfung in der Schule müsste nicht sein, zumindest wenn es darum geht, daraus auf künftige Leistungen in Englisch, Mathematik und Naturwissenschaften zu schließen – denn die lassen sich aus den Urteilen von Lehrkräften ebenso gut vorhersagen. Zu diesem Schluss gelangt ein Team um Kaili Rimfeld vom King’s College London anhand einer Längsschnittstudie im »Journal of Child Psychology and Psychiatry«.
Christiane Gelitz (2019). Könnten Schulen auf viele Prüfungen verzichten? Spektrum.de
Hintergrund
Kinder im Vereinigten Königreich durchlaufen während der gesamten Pflichtschulzeit (Grundschule und Sekundarstufe) strenge Lehrerbewertungen und standardisierte Prüfungen, die mit den GCSE-Prüfungen (General Certificate of Secondary Education) im Alter von 16 Jahren und den A-Level-Prüfungen (Advanced Certificate of Secondary Education) im Alter von 18 Jahren ihren Höhepunkt erreichen. Diese Prüfungen sind ein wichtiger Wendepunkt, der junge Menschen auf verschiedene Lebenswege lenkt. Es ist jedoch wenig bekannt über die Zusammenhänge zwischen Lehrerbewertungen und Prüfungsleistungen oder darüber, wie gut diese beiden Messansätze die Bildungsergebnisse am Ende der Pflichtschulzeit und darüber hinaus vorhersagen.
Methoden
Für die aktuelle Untersuchung wurde die für das Vereinigte Königreich repräsentative Zwillingsstudie (Twins Early Development Study, TEDS) mit über 5 000 Zwillingspaaren herangezogen, die von der Kindheit bis zum jungen Erwachsenenalter (7-18 Jahre) longitudinal untersucht wurden. Anhand von Lehrerbeurteilungen und Prüfungsleistungen im Verlauf der Entwicklung untersuchten wir mit Hilfe genetisch sensitiver Designs die Zusammenhänge zwischen Lehrerbeurteilung und standardisierten Prüfungsergebnissen sowie die Vorhersage von Lehrerbeurteilungen für Prüfungsergebnisse im Alter von 16 und 18 Jahren und für die Einschreibung an einer Universität.
Ergebnisse
Die Leistungsbeurteilungen der Lehrer sind in jeder Phase der Bildungserfahrung ebenso zuverlässig, stabil und prognostisch valide (~60 %) wie die Testergebnisse. Lehrer- und Testergebnisse korrelieren stark phänotypisch (r ~ .70) und genetisch (genetische Korrelation ~.80), sowohl bei zeitgleichem Vergleich als auch im Zeitverlauf. Frühere Prüfungsleistungen erklären zusätzliche Varianz in standardisierten Prüfungsergebnissen (~10%) im Alter von 16 Jahren, wenn man die Bewertungen der Lehrer kontrolliert. Allerdings erklärt die Prüfungsleistung weniger zusätzliche Varianz im späteren akademischen Erfolg, nämlich ~5 % für Prüfungsnoten mit 18 Jahren und ~3 % für den Hochschulzugang, wenn man die Bewertungen der Lehrer kontrolliert. Lehrerbewertungen sagen auch verlässlich zusätzliche Varianzen bei den späteren Prüfungsleistungen und der Immatrikulation an einer Universität voraus, wenn sie für frühere Prüfungsergebnisse kontrolliert werden.
Schlussfolgerungen
Lehrer können die Fortschritte, Fähigkeiten und Neigungen von Schülern zuverlässig und valide beobachten. Prüfungen mit hohem Leistungsniveau können dazu führen, dass sich die Bildungserfahrung vom Lernen auf die Prüfungsleistung verlagert. Aus diesen Gründen schlagen wir vor, dass Lehrerbewertungen einige oder alle Prüfungen mit hohem Leistungsniveau ersetzen könnten.
Text: Rene Carbonneau, Richard E. Tremblay, Frank Vitaro, Mara Brendgen, Michel Boivin, Pascale Domond, Sylvana Côté, Academic Achievement in Grades 1 to 6: Association with Child, Parental and Socio-Familial Characteristics 5 Months After Birth, Early Childhood Research Quarterly, 10.1016/j.ecresq.2022.09.006, 62, (304-314), (2023).