Diskussionen über Verteilungsfragen im Unterricht reflektieren

1962 wurde die sog. Gemeinsame Agrarpolitik (GAP) durch die damaligen Mitgliedsstaaten der EWG eingeführt. Dabei handelt es sich um einen Vertrag zur dauerhaften Subventionierung des Agrarsektors. Hauptursache für die Einführung war, dass die bestehenden nationalen Interventionen in die Landwirtschaft teilweise nicht mit den Regelungen des europäischen Binnenmarktes vereinbar waren und daher durch Interventionen auf supranationaler Ebene ersetzt werden mussten. Ursprüngliche Ziele der nationalen wie auch der supranationalen Eingriffe in landwirtschaftliche Produktions- und Marktprozesse waren die Sicherstellung ausreichender Nahrungsmittelproduktion, die Stabilisierung der Lebensmittelpreise trotz starker klimatischer und geographischer Einflüsse auf die Produktion und die Unterstützung der Einkommen der landwirtschaftlichen Bevölkerung bei gleichzeitig niedrigen Lebensmittelpreisen für die Verbraucherinnen und Verbraucher.

Aktuelle Diskussionen über z.B. die Subventionierung von Treibstoff zeigen die hohe gesellschaftliche Brisanz, die hinter derartigen Verteilungsfragen steht. Im folgenden Unterrichtsentwurf für die Sek. II, der in zwei Teilen veröffentlicht ist, wird der Weg gegangen, in der Formulierung der kategorialen Didaktik Klafkis das Fundamentale und Elementare, das hinter solchen Verteilungsfragen steht, über das Konzept der Verteilungsgerechtigkeit bei Aristoteles zu behandeln am Beispiel der EU-Agrarpolitik.

Teil II: Unterrichtsentwurf mit didaktisch-methodischer Analyse; zum Überblick die Stundenziele: 
1. Die Schüler*innen setzen sich in einer einfachen Anwendungssituation (z.B. Tortenverteilung) mit der Gleichverteilung als gerechte Lösung auseinander.
2. Die Schüler*innen erschließen auf der Grundlage ihrer Erfahrungen in der Diskussion um die Verteilung von Klimakosten die jeweiligen relevanten Gründe für Ungleichverteilung aus einfachen Aussagen.
3. Die Schüler*innen erklären die aristotelische Position zur Verteilungsgerechtigkeit.
4. Die Schüler*innen, weshalb eine vorausgehende Wertunterscheidung zwischen Menschen in einer Moral der gleichen Achtung nicht als relevanter Grund für Ungleichverteilung akzeptiert werden kann.
5. Die Schüler*innen kennen wesentliche Hintergrundinformationen zur Gemeinsamen Agrarpolitik der EU und beschreiben Reformbemühungen als Verteilungsproblem.
6. Die Schüler*innen arbeiten aus vorgegebenen argumentativen Texten die jeweils vorherrschenden relevanten Gründe heraus und setzen diese in Beziehung zu Aristoteles’ Theorie der distributiven Gerechtigkeit.

Teil I: Das Konzept der Verteilungsgerechtigkeit bei Aristoteles (Sachanalyse)

Zunächst soll geklärt werden, wie Gerechtigkeit definiert werden kann. Dazu sei zunächst auf zwei grundlegende antike Definitionen verwiesen. Zunächst definiert Platon Gerechtigkeit als τὸ προσῆκον ἑκάστῳ ἀποδιδόναι.[1] Gerecht ist demnach eine Handlung dann, wenn sie jedem das gibt, „was ihm zukommt“ bzw. was er verdient.

Aristoteles behandelt das Thema im fünften Buch seiner Nikomachischen Ethik und bezeichnet Gerechtigkeit zunächst als „vollendete Tugend“, den Inbegriff der Tugend.[2] Dies stellt ihn vor das Problem, wie die Gerechtigkeit in sein Gesamtsystem der ethischen Tugenden einzuordnen ist. Denn eigentlich müsste Gerechtigkeit eine Mitte[3] zwischen zwei Extremen sein. Zunächst nennt er aber nur die Ungerechtigkeit als Gegensatz, aus dessen genauerer Betrachtung er eine Definition von Gerechtigkeit ableitet: „[E]s scheint somit klar, dass, wer die Gesetze und die Gleichheit achtet, gerecht ist. Das Gerechte ist also, was den Gesetzen und der Gleichheit entspricht.“[4] In Hinblick auf die Verteilungsgerechtigkeit ist hier vor allem interessant, dass Gleichheit ein Aspekt von Gerechtigkeit zu sein scheint. Damit ist allerdings nicht gesagt, dass Gleichverteilung immer gerecht wäre, wie sich unten noch zeigen wird. Außerdem können nicht nur Güter, sondern auch Übel verteilt werden.[5]

Um die Gerechtigkeit in sein System der ethischen Tugenden einzuordnen, unterscheidet Aristoteles im Folgenden die allgemeine von der partikularen Gerechtigkeit.[6] Bei der partikularen Gerechtigkeit lassen sich laut Aristoteles zwei grundlegende Fragestellungen unterscheiden. Erstens lässt sich danach fragen, wie mit einer aus dem Gleichgewicht geratenen moralischen oder rechtlichen Situation umzugehen ist, sodass der Ausgleich am Ende wieder hergestellt wird (korrektive oder ausgleichende Gerechtigkeit). Zweitens kann sich die Frage stellen, wie Güter oder Übel, die zur Verteilung stehen, gerecht auf die betroffenen Personen aufgeteilt werden können (distributive oder Verteilungsgerechtigkeit). Als Güter werden insbesondere Rechte, Macht oder materielle Güter bezeichnet, während u. a. Verpflichtungen und Entbehrungen als Übel aufgefasst werden. Weil es gemäß Platons Definition darum geht, „was jemandem zukommt“ bzw. was jemand verdient, lautet die zentrale Frage: Verdienen alle das gleiche oder kann es in bestimmten Fällen die gerechtere Lösung sein, Güter und Übel ungleichmäßig zu verteilen?

Es gibt im wesentlichen zwei verschiedene Standpunkte zu dieser Frage. Die egalitäre Auffassung ist, dass zwei beliebige Personen grundsätzlich Gleiches verdienen, sodass stets Gleichverteilung als gerechteste Lösung folgt. Aristoteles dagegen geht davon aus, dass verschiedene Personen Ungleiches verdienen können, und sieht daher Gleichverteilung nur unter denjenigen als gerecht an, die auch Gleiches verdienen, und analog ungleiche Verteilung bei ungleichem Verdienst:

Das Gerechte setzt also mindestens vier Glieder voraus: Denn die Menschen, für die es gerecht ist, sind zwei, und die Sachen, auf die sich das Gerechte bezieht, sind ebenfalls zwei. Auch wird es dieselbe Gleichheit sein für die Personen und bei den Sachen. Wie sich die Sachen zueinander verhalten, so auch die Personen. Wenn diese nämlich nicht gleich sind, werden sie auch nicht Gleiches erhalten; aber daraus erwachsen Streitigkeiten und Anklagen, wenn Gleiche Ungleiches oder Ungleiche Gleiches haben und zugeteilt bekommen.[7]

Hier wird deutlich, was gerechte Verteilung für Aristoteles konkret bedeutet: Die Proportion (τὸ ἀνάλογον) zweier Personen  und  zueinander muss der Proportion der ihnen zugeteilten Güter (oder Übel)  und  zueinander entsprechen. Wenn z. B.  doppelt so viele Stunden pro Woche arbeitet wie , dann erscheint es gerecht, wenn  auch doppelt so viel Lohn erhält wie .[8]

Tugendhat (2019), S. 373f., weist auf zwei wesentliche Gemeinsamkeiten dieser Position mit der egalitären Position hin, deren Klärung die eigentlich im Folgenden relevante Fragestellung deutlich macht: Erstens ist es aus beiden Perspektiven ungerecht, bei ungleichem Verdienst gleich zu verteilen. Der Vertreter der egalitären Position gesteht lediglich nicht zu, dass dieser Fall eintreten kann. Zweitens sind sich die Vertreter der beiden Positionen darin einig, dass immer dann gleich zu verteilen ist, wenn keine relevanten Gründe für ungleiches Verdienst angeführt werden können. Damit wird deutlich, dass es auf eine genauere Untersuchung dieser relevanten Gründe für Ungleichverteilung ankommt, bevor entschieden werden kann, in welchen Fällen ungleiche Verteilung gerecht ist. Die Frage lautet also: Welche relevanten Gründe kann es dafür geben, dass eine Ungleichverteilung gerechter ist als die Gleichverteilung?

Zur Illustration dieser Frage soll im Folgenden ein anschauliches Beispiel für ein Verteilungsproblem besprochen werden:

„Ist eine Torte unter mehreren Kindern zu verteilen, können verschiedene Gründe für eine ungleiche Verteilung angeführt werden. Ein Kind könnte erklären, daß es besonders großen Hunger hat. Das ist das sogenannte Bedürfnisargument. Ein anderes Kind könnte sagen, daß ihm die Mutter bereits die Hälfte der Torte versprochen hat: das Argument aus erworbenen Rechten. Ein drittes könnte anführen, daß es für die Mutter gearbeitet hat: das Argument aus Verdienst im engeren Sinn (Leistung). Viertens könnte ein Kind sagen, ihm gebühre ein größeres Stück, weil es das erstgeborene ist. Dieser Grund läuft darauf hinaus, daß es vorweg einen größeren Wert hat.“[9]

Die Grundidee hierbei ist, dass die egalitäre Verteilung als Grundlage dient, die keiner weiteren Begründung bedarf. Erst wenn ungleiche Verteilung verlangt wird, muss diese begründet werden, was im Beispiel durch die Aussagen der Kinder versucht wird. Das hängt damit zusammen, dass es unendlich viele verschiedene Möglichkeiten gibt, ungleich zu verteilen, aber nur eine einzige, gleich zu verteilen. Daher kommt es am Ende darauf an, dass die angeführten Gründe auch als relevant akzeptiert werden; manche Begründungen werden grundsätzlich als irrelevant abgewiesen (z. B. wenn ein Kind anführt, ihm stehe wegen seiner blauen Augen ein größeres Stück zu).[10]

Zur Untersuchung der Relevanz der von den Kindern im Beispiel angeführten Gründe für ungleiche Verteilung ist es hilfreich, zunächst „primäre und sekundäre Diskriminierung“[11] zu unterscheiden. Dabei bedeutet primäre Diskriminierung, dass es eine „vorausgehende Wertunterscheidung zwischen den Menschen“[12] gibt (vgl. das Argument des erstgeborenen Kindes bei der Tortenverteilung). Wie Tugendhat (2019), S. 375 ff., zeigt, ist in einer Moral der gleichen Achtung primäre Diskriminierung grundsätzlich nicht begründbar. Können keine anderen Gründe für Ungleichverteilung angeführt werden, muss also immer gleich verteilt werden.

Wenn nun vorausgesetzt wird, dass prinzipielle Gleichheit unter allen möglichen Empfängern der zu verteilenden Güter besteht, können sich trotzdem ungleiche Verteilungen als gerecht erweisen, wenn auf der sekundären Ebene entsprechende Gründe anerkannt werden. Aristoteles selbst nennt als einzigen Grund eine unterschiedlich hohe „Würdigkeit“ (ἀξία), die dafür ausschlaggebend ist, dass manche Menschen mehr verdienen als andere. Hier weist Aristoteles bereits auf ein großes Problem hin, das diese Art der Unterscheidung von Ansprüchen mit sich bringt: Würdigkeit kann unterschiedlich definiert werden (z. B. als Reichtum oder als adlige Abstammung).[13] Die praktische Umsetzung von gerechter Ungleichverteilung ist auf eine Operationalisierung des Begriffs Würdigkeit angewiesen. Je nach Definition des Begriffs und Gewichtung einzelner Teilaspekte von Würdigkeit erhält man ein anderes Ergebnis, d. h. eine andere Verteilung.[14] Dieses Problem tritt neben weiteren auch bei heutigen Verteilungsdiskussionen auf, wie im Folgenden gezeigt wird.

Anstelle der ἀξία werden bei heutigen Verteilungsproblemen in der Regel folgende Gründe für Ungleichverteilung auf sekundärer Ebene anerkannt: Bedürfnis/Bedürftigkeit, Verdienst im engeren Sinn (Leistung) und erworbene Rechte (z. B. durch Versprechungen oder Verträge). Kommt es z. B. zu einer Diskussion über die gerechte Verteilung von materiellen Gütern, werden in der Regel diese drei Gründe angeführt, wobei sich die Beteiligten auf die gleichen Gründe stützen und trotzdem zu ganz unterschiedlichen Ergebnissen kommen können. Der Grund dafür ist, dass bei der Berücksichtigung dieser Gründe mehrere Probleme auftreten: Erstens ist nicht von vornherein klar, in welchem Verhältnis die drei Gründe zueinander stehen. Ist z. B. besondere Leistung (grundsätzlich oder im konkreten Fall) als Grund anzuerkennen oder stattdessen erworbene Rechte? Und wie könnte man z. B. Leistung und Bedürfnis gegeneinander aufwiegen, wenn beide als relevante Gründe anerkannt werden? Zweitens kommt es auch dann zu gegensätzlichen Argumentationen, wenn z. B. alle Beteiligten sich auf ihre jeweilige Leistung berufen. Hier liegt das Problem (wie bei Aristoteles’ ἀξία) darin, dass die Beteiligten unter Leistung unterschiedliche Dinge verstehen oder unterschiedliche Gewichtungen vornehmen. Ist z. B. das besondere Engagement eines Unternehmens im Bereich Klimaschutz höher zu gewichten als die Sicherstellung preisstabiler und kostengünstiger Lebensmittel in ausreichender Menge durch ein anderes Unternehmen? Hat dasjenige Kind seiner Mutter mehr geholfen, das ihr die Gartenarbeit abgenommen hat, oder dasjenige, welches den Einkauf für das Mittagessen erledigt hat?

Ein weiteres Problem tritt bei Verteilungsprozessen ggf. dann auf, wenn neben der Gerechtigkeit noch weitere Aspekte wie die Nützlichkeit oder die Praktikabilität in den Blick genommen werden. Geht es etwa nicht um die Verteilung von materiellen Gütern, sondern z. B. um Ämter oder Macht, steht in der Regel nicht nur Gerechtigkeit, sondern auch Nützlichkeit im Fokus. Dass in einem Staat diejenigen die meiste Macht bekommen, die am fähigsten sind, diese Macht im Sinne aller auszuüben, ist nicht gerecht, weil damit von vornherein diejenigen ausgeschlossen werden, die die entsprechenden Fähigkeiten nicht besitzen. Es handelt sich aber um eine besonders nützliche Verteilung von Macht, die idealerweise dazu führt, dass insgesamt alle profitieren. Man nimmt also bewusst in Kauf, dass Macht nicht gerecht verteilt wird, weil die an der Nützlichkeit orientierte Verteilung trotzdem als besser beurteilt werden kann. Gerechtigkeit ist also nur ein Aspekt des Guten, der ggf. gegen andere abgewogen werden muss.[15]

Unterrichtsmaterial zur Bestimmung der Verteilungsgerechtigkeit bei Aristoteles

Die didaktische Reduktion als Ergebnis der didaktischen Analyse, die im zweiten Blogbeitrag zu finden ist, führt im Entwurf zu einem Arbeitsblatt, das die Erkenntnisseschritte linear strukturiert. Das Arbeitsblatt kann entweder begleitend bei einer Lektüre des Originaltextes eingesetzt werden im Ethikunterricht oder die didaktisch reduzierten Inhalte werden im lehrer*innengeführten Unterricht als Grundlage der Anlayse der Texte zur EU-Agrarsubventionierung im Geographieunterricht gemeinsam besprochen.

Teil II: Unterrichtsentwurf mit didaktisch-methodischer Analyse

Titelbild: Image by Oleksandr Ryzhkov on Freepik

Text & Unterrichtsentwurf: Stefan Walberer (2023)


[1]    Politeia 1.332b-c.

[2]    Vgl. Nik. Ethik 1129b.

[3]    Die Idee der Mesotes-Lehre ist nicht, dass das Richtige auf einer kontinuierlichen Skala genau in der Mitte zwischen den beiden Extremen liegt und damit messbar wäre. Aristoteles spricht stattdessen von der „Mitte in Bezug auf uns“, d. h. auf das, was in der jeweiligen Situation angemessen ist.

[4]    Nik. Ethik 1129a (Übersetzung: Krapinger (2017)).

[5]    Vgl. Nik. Ethik 1129a.

[6]    Vgl. Aristoteles, Nikomachische Ethik 1130b-1131a.

[7]    Übersetzung von Gernot Krapinger.

[8]    Dass eine Person 1.000 Euro und eine andere 100.000 Euro pro Monat verdient, kann demnach nur dann gerecht sein, wenn die zweite Person auch hundertmal so lang arbeitet wie die erste (zumindest, wenn man die Arbeitszeit als einziges ausschlaggebendes Kriterium ansieht). In der Praxis wird dieser Fall nicht eintreten. Auch wenn man anstelle der Arbeitszeit den Begriff Leistung verwendet, erscheint es ausgeschlossen, dass sich die Leistung einzelner Menschen in einem begrenzten Zeitraum so stark unterscheidet. Dieses Argument verwendet auch Neuhäuser (2019), S. 51f., um zu zeigen, dass Reichtum oder Einkommen oberhalb einer gewissen Schwelle das Leistungsprinzip untergräbt und damit „ein zentrales Problem für ein Zusammenleben in Würde“ darstellt.

[9]    Tugendhat (2019), S. 373 f.

[10]  Vgl. Tugendhat (2019), S. 374 f.

[11]  Tugendhat (2019), S. 375.

[12]  Tugendhat (2019), S. 375.

[13]  Natürlich läuft das Argument der adligen Abstammung wieder auf eine primäre Diskriminierung hinaus. Je nach Definition kann „Würdigkeit“ als primärer oder sekundärer Grund aufgefasst werden.

[14]  Vgl. Kistler (2018), S. 272.

[15]  Vgl. Tugendhat (2019), S. 385.