Zum Problem des ansteigenden Meeresspiegels

Vorgestellt wird hier ein didaktisch und methodisch begründeter Vergleich zwischen einer Dokumentation Al Gores und einem Jung&Naiv-YouTube-Gespräch jeweils zum Problem des ansteigenden Meeresspiegels als einer wesentlichen Folge des Klimawandels.

Der Um-ein-Haar-US-Präsident des Jahres 2000 und langjährige Vizepräsident seines Landes Al Gore ist den meisten Menschen vor allem noch durch sein Engagement gegen den Klimawandel bekannt. Dafür erhielt er 2007 sogar den Friedensnobelpreis. Während Gore in den USA eine langjährige Vortragsreihe durchgeführt und sehr viele Multiplikator*innen für den Klimaschutz gewonnen hat, machte er international vor allem durch zwei Filme zum Thema Furore: Mit der Filmdokumentation „Eine unbequeme Wahrheit. Eine globale Warnung“ (2006), die sogar zwei Oscars gewann, und ihrer Nachfolgerin „Immer noch eine unbequeme Wahr­heit – unsere Zeit läuft“ (2017; Regie: B. Cohen und J. Shenk), die dasselbe zehn Jahre zuvor populär gemachte Thema vertieft. Ging es Gore Mitte der Nullerjahre darum, überhaupt ein Problembewusstsein zu schaffen, bestanden seine Bemühungen zuletzt in erster Linie darin, die Dringlichkeit des Problems zu betonen.

Der You-Tube-Channel Jung&Naiv macht es sich seit 2013 zum Vorsatz Gesprächsformate für junge Menschen zu gestalten. Der Name geht zurück auf den Journalisten Tilo Jung und sein Anliegen, Politik für Desinteressierte zu machen. Nach den frühen verspielteren Anfängen wird Jung nicht nur immer älter, sondern seine Haltung auch ernsthafter. In den letzten zwei Jahren ging es in dem Format, das auf langen Gesprächen basiert, bei denen die Gäste immer auch zu ihrer Biographie befragt werden, häufig um den Klimawandel. Seine zunehmende Popularität nutzt Jung, der 2014 einen Grimme Online Award erhielt, um u.a. hochrangigen Politiker*innen, Wissenschaftler*innen u.v.m. auf den Zahn zu fühlen (vgl. Nieberding 2014). Hierzu zählten zuletzt auch bekannte Namen aus dem Umfeld der Scientists for Future bzw. des international renommierten Potsdam-Instituts für Klimafolgenforschung (PIK).

Zum didaktischen Potenzial des intermedialen Vergleichs

Ob (bewegte) Bilder einen analogen Anspruch auf argumentative Geltung haben wie sprachlich formulierte Argumente oder ob nur ein Zusammenspiel aus präsentativen und diskursiven Elementen solch einen Anspruch entfalten kann, ist didaktisch eher umstritten (vgl. für die Fachgruppe Ethik und Philosophie Tiedemann 2011 bzw. Dege 2011 und Sistermann 2011 bzw. Runtenberg 2016, 42ff.). Klar ist aber immerhin, dass Visuelles bzw. Begriffliches selten in Reinform auftritt, sondern dass auch Bildhaftes sehr häufig erläutert wird und Argumente etwa in Form von Beispielen genauso anschaulich werden. Dieses Spannungsfeld ist für den Unterricht sehr attraktiv, nicht nur weil es sich nur durch Medienvielfalt ergibt, sondern auch kritische Vergleiche zwischen Medien erfordert.

Noch immer werden audiovisuelle Medien allzu oft als reine Informationsvermittler genutzt oder im schlimmsten Fall für eine Pause seitens der Lehrkraft (dann passiert es nicht selten, dass auch Schüler*innen „abschalten“). Mit einem gezielten Vergleich zwischen der jüngeren Dokumentation Gores und einem Gespräch von Jung mit Klimaforscher Stephan Rahmstorf sollen hier die Vorteile der Informationsübermittlung und der kritischen Reflexion der jeweiligen Inszenierung zugunsten eines mediensensiblen Unterrichtens verbunden werden. Dabei ist es sehr wichtig, dass beide audiovisuellen Medien nicht komplett gezeigt werden (das wären im Ganzen ca. dreieinhalb Stunden!), sondern geeignete Auszüge ausgewählt und zur genauen Wahrnehmung und Reflexion im Unterricht eingesetzt werden. Im Folgenden wird hierzu ein Beispiel vorgeschlagen und kommentiert. Viele weitere geeignete Unterrichtsmedien könnten in Eigenregie aus dieser Anregung hervorgehen.

Zur Begründung der Auswahl der Auszüge

Ich beziehe mich hier auf den Beginn von Gores „Immer noch eine unbequeme Wahrheit“ und auf eine Passage des Dialogs zwischen Jung und Rahmstorf; genauer auf die Sequenz 0:05:45-0:16:40 bei Gore [1] und 0:53:06-1:03:27 bei Jung [2]. Ich stelle diese Auszüge ins Zentrum, weil in ihnen dasselbe Thema relevant wird – es jeweils aber ganz unterschiedlich inszeniert wird: das Problem unseres ansteigenden Meeresspiegels. Wer möchte, könnte je nach Unterrichtssituation weitere Sequenzen aus Dokumentation bzw. Gespräch auswählen und mit den Schüler*innen gemeinsam zur Vertiefung nutzen.

Die Dokumentation des Demokraten Gore beginnt mit z. T. sehr heftigen Kommentaren der politischen Gegnerschaft, die jeden Klimawandel bestreitet und stellt im weiteren Verlauf Gores Biographie und seine Bildungs-, Medien- bzw. Lobbyarbeit vor. Die Spannungskurve mündet am Ende in das Pariser Klimaabkommen von 2015. Mitunter wird Gore – im Stile eines Politik-Westerns – als einsamer Held inszeniert, der sich um die Weltrettung bemüht (vgl. kritisch hierzu Rüesch 2017).

Screenshots Abb. 1 u. 2

Das zweistündige ungeschnittene Gespräch zwischen Jung und Rahmstorf findet im Büro des Letzteren statt. Zentrale Themen sind das PIK und dessen Politikberatung, Aspekte der Ozeanographie (Rahmstorfs Spezialgebiet), deren Forschungspraxis, internationale Gefahren durch Klimawandel und der Umgang mit Klimawandelleugner*innen (dieser Abschnitt am Ende des Gesprächs ließe sich z.B. mit dem Beginn der Dokumentation Gores, aber auch mit weiteren ihrer Szenen eines politischen Kampfs in den USA sehr treffend kontrastieren).

Screenshots Abb. 3 u. 4

Beide Sequenzen sind selbstredend in eine Einheit zu integrieren, die z.B. ethische Aspekte des Klimawandels betreffen. Jede Komplexität ist methodisch zu variieren, doch nimmt man die Informationen aus den Unterrichtsmedien zum Kriterium, scheint das Vorhaben für Schüler-*innen ab – spätestens – dem neunten Jahrgang geeignet. Da beide Auszüge gemeinsam knapp 20 Minuten Länge haben, sind sie in eine Einzel-, besser aber Doppelstunde einzufügen.   

Screenshots Abb. 5 u. 6

Zur Methode dieses intermedialen Vergleichs

Der populäre Politiker Gore hat gewiss die viel besseren Bilder. Doch der Experte Rahmstorf erklärt den Zusammenhang besser. Wie ist es möglich, die Vorteile beider Inszenierungen für den Unterricht zu übernehmen und zugleich kritisch mit den unterschiedlichen Präsentations-weisen umzugehen?

Die einzelnen Schritte der Vorgangsweise gehören zum kleinen Einmaleins des Unterrichts; es ist jedoch darauf zu achten, dass nicht nur die Inhalte, sondern auch deren Inszenierung hierbei eine konzentrierte Beachtung finden:

1) Beschreiben und zusammenfassen:

Ich empfehle erstens den Auszug aus Gores Doku zu zeigen (ggf. auch an passenden Stellen jeweils unterbrochen). Die Schüler*innen sollen vorerst beschreiben, was sie wahrgenommen (die Tonspur nicht vergessen!) haben und dann die relevanten Informationen zusammenfassen (dabei kann man sich an die üblichen W-Fragen halten). Ähnlich ist dann mit dem Gespräch zwischen Jung und Rahmstorf umzugehen, wobei hier genauso dessen situativen Umstände und besondere Auffälligkeiten zu beachten sind (Abb. 1/2).

2) Analysieren und vergleichen:

Im zweiten Schritt sollte man ausgewählte spezifische Elemente beider Unterrichtsmedien zuerst ins Zentrum der Rezeption stellen: Etwa Anteile an Entertainment bei Gore, aber auch äußerst beeindruckende Aufnahmen explodierender, weil abschmelzender Gletscher (Abb. 3) auf Grönland, die am Fuße eines Berges sichtbare Linie der abgeschmolzenen Eisoberfläche, die sich Gore von einem Wissenschaftler erklären lässt (Abb. 4) und sogenannte Gletscher-mühlen, die zu riesigen Abflusskanälen des Schmelzwassers führen (Abb. 5/6). Ferner ist es sinnvoll, auf einzelne diagrammatische Elemente einzugehen, die z.B. den gesteigerten Anstieg der heißen Tage in den letzten Jahren zeigen oder aber die Forschungsstation auf Grönland im Wandel zwischen den Jahren – bei abnehmender Eisdecke (Abb. 7/8). Das Abschmelzen des Eises verbindet Gore dann unmittelbar – „So, und wo fließt all dieses Wasser nun hin?“ – mit regelmäßigen Überschwemmungen in Miami (Abb. 9).

Screenshots Abb. 7 u. 8

Rahmstorf kommt auf viele dieser Phänomene des Klimawandels zu sprechen, ohne aber die Qualitäten dokumentarischer Bilder beanspruchen zu können. So geht er anfänglich kurz auf die Situation in Miami ein, ordnet sie aber in einen Exkurs zur historischen Dimensionen der Eisschmelze seit der letzten Eiszeit ein. Er erklärt dabei viel mehr physikalische Prozesse als Gore und nennt auch einige Daten (etwa dass das Gesamtvolumen an Erd-Eis bei kompletter Abschmelze die Ozeane um ca. 65m ansteigen ließe und faktisch seit der Industrialisierung ein Anstieg von 20cm festzustellen sei). Zudem nennt er wichtige Kipppunkte und warnt vor exponentieller Beschleunigung der/durch Erderwärmung. Am Ende lässt er sich selbst auf eine Art von Gedankenexperiment ein, das die Absurdität bisheriger Versuche, das Erwärmen und Abschmelzen der Antarktis durch Geoengineering (etwa durch „tausende Schneekanonen“) zu verhindern, metaphorisch anschaulich werden lässt.

Screenshots Abb. 9 u. 10

Diese zwei äußerst unterschiedlichen Inszenierungsweisen beider Unterrichtsmedien sollten danach exemplarisch zu einem Vergleich genutzt werden. Gleichzeitig werden die Schüler-*innen weitere Vergleichsaspekte nennen, wie etwa das unterschiedliche Tempo, zahlreiche vollzogene Schnitte bei Gore, auch dramatisierende Musik und skeptische Selbstreflexionen, dagegen ein Gespräch ohne Schnitt und Metabemerkungen bei Jung&Naiv u.v.m.

Man vermutet bei Gore auch eine sehr US-zentrische Perspektive, die aber durch eine direkt auf den hier gewählten Auszug folgende Sequenz immerhin relativiert wird, indem in deren Verlauf auch die internationalen Leidtragenden der ansteigenden Ozeane drastisch ins Bild gesetzt werden und mit der Symbolik des „Blue Marble“-Fotos der NASA von 1972 (Abb. 8) eine globale ökologische Sicht eröffnet wird (vgl. Bredekamp 2007, 151ff.).

3) Erörtern und bewerten:

Ausgehend vom Vergleich beider Unterrichtsmedien sollten die Schüler*innen drittens und abschließend ein individuelles Urteil zu beiden Inszenierungsweisen fällen. Wichtig ist aus meiner Sicht die Tatsache, dass Analyse und Vergleich jeweils recht kritisch – z.B. zur hohen Suggestion Gores und im Vergleich auffälligen Nüchternheit/Sachlichkeit bei Jung&Naiv – und dass das Urteil unbedingt ergebnisoffen ermöglicht wird. Ganz gewiss werden einzelne Schüler*innen das Oder im Titel dieses Beitrags zum Und wandeln. Sicher wäre das nicht das schlechteste Ergebnis; bei jedem begründeten Urteil hätte sich aber das übergeordnete Ziel der didaktisch und methodisch attraktiven Kombination aus Informationsübermittlung und kritischer mediensensibler Reflexion erfüllt. 

Autor: Florian Wobser

Weiterführendes

Jung&Naiv umfasst weitere Folgen zum Thema Klimawandel (manche der Beiträge werden in dieser kleinen Serie zu Unterrichtsmedien im Vergleich ggf. noch aufgegriffen);

verwiesen sei an dieser Stelle auf die folgenden Beiträge:

…Nachhaltigkeitsexpertin Maja Göpel über Prozesse der sozial-ökologischen Transformation:

…Energieforscher Volker Quaschning über erneuerbare Energien und Scientists for Future:

…Nachhaltigkeitsökonom Ottmar Edenhofer zu Klimapolitik und Emissionshandel:

… Post-Wachstums-Ökonom Niko Paech zu Ressourcenverbrauch und Nachhaltigkeit:

(regelmäßig aktualisierte) Episodenliste von Jung&Naiv:

https://de.wikipedia.org/wiki/Jung_%26_Naiv/Episodenliste

Literatur                 

Bredekamp, Horst. Das Bild als Leitbild. Bilder bewegen. Berlin: Wagenbach 2007. 136-156. 

Gore, Al (2006): Eine unbequeme Wahrheit – eine globale Warnung (DVD; Paramount).

Ders. (2017): Immer noch eine unbequeme Wahrheit – unsere Zeit läuft (DVD; Paramount)

Jung&Naiv Folge 447 (2019): Klimaforscher Stefan Rahmstorf:

Nieberding, Mareike (2014): Ein Typ zum Kuscheln. „Jung&Naiv“-Macher Tilo Jung. FAZ 31.05.14: https://www.faz.net/aktuell/feuilleton/medien/jung-naiv-macher-tilo-jung-ein-typ-zum-kuscheln-12966344.html

Rüesch, Andreas (2017): Al Gore doppelt nach und nimmt es mit den Fakten nicht so genau. NZZ 09.10.17: https://www.nzz.ch/feuilleton/al-gore-doppelt-nach-und-nimmt-es-mit-den-fakten-nicht-sehr-genau-ld.1320828

Tiedemann, Markus (2011): „Mal mir was!“. Ein Zwischenruf. Zeitschrift für Didaktik der Philosophie und Ethik (= ZDPE) 1/2011. 78-80.

Dege, Martina (2011): Befremdliche Polemik. Zu Markus Tiedemann: ‚Mal mir was!‘. ZDPE 3/2011. 241ff.

Sistermann, Rolf Hg. (2011): Positionierungen zu Tiedemann Zwischenruf „Mal mir was!“. Eine Diskussion  über den Stellenwert präsentativer Medien im Philosophieunterricht. ZDPE 4/2011. 334-347.

Runtenberg, Christa (2016): Philosophiedidaktik. Lehren und Lernen. Paderborn: UTB.


Fußnoten:

[1] https://paramount.de/immer-noch-eine-unbequeme-wahrheit

oder https://www.youtube.com/watch?v=mEv12lJdutY&ab_channel=YouTubeMovies

[2] https://youtu.be/wprwhgg8SO4?t=3186