Das Problem der Nachhaltigkeit als Strategie zur Bekämpfung des Klimawandels

Vorgestellt wird hier ein didaktisch und methodisch begründeter Vergleich zwischen einem Kapitel aus einer Einführung in die Umweltethik und einem Jung&Naiv-YouTube-Gespräch jeweils zum Thema Nachhaltigkeit und der damit verknüpften Frage, wie stark / schwach diese ökologische Strategie mit Blick auf den Klimawandel auszulegen ist.

Das Konzept der Nachhaltigkeit aus umweltethischer Perspektive

Michael Reder u.a. veröffentlichten im Jahre 2019 „Umweltethik. Eine Einführung in globaler Perspektive“. Als Einführung für Ethik- oder Geographie-Lehrkräfte ist es sehr gut geeignet, weil es die Grundpositionen des Verhältnisses zwischen Mensch und Umwelt zuerst zu den drei normativen Modelle Pflichtethik, Utilitarismus und Eudämonismus in Beziehung setzt und danach gerechtigkeitstheoretisch in globaler Hinsicht zuspitzt. Dazu müssen die Verfasser ihre ethischen Überlegungen in gegenwärtige gesellschaftliche, speziell politische/ökonomische Kontexte einordnen. Damit dies gelingt, erläutern sie u.a. Grundzüge der Lage des Umweltschutzes, der Konzeption der Nachhaltigkeit (s.u.), der Umweltökonomie, der Bemühungen der Entwicklungs­kooperation und demokratische bzw. juristische Aspekte. Ferner beziehen sie konkrete Problemfelder und kulturelle Dimensionen mit ein, besonders Lebensstilfragen (Konsum und Glaube). Ihr interdisziplinärer Ansatz entspricht den schulischen Unterrichtsfächern Ethik und Geographie insofern, dass eine globale Problemorientierung allein im Austausch mit gesellschaftlichen, politischen, religiösen u.a. Disziplinen konsequent verfolgt werden kann. 

In einem Kapitel wird Nachhaltigkeit als umweltethisches Prinzip behandelt. Nach Erläuterung der Agenda 2030, dem UN-Nachhaltigkeitsprogramm, und einem Exkurs, der historisch den forstwirtschaftlichen Ursprung des Konzepts erklärt, wird dann ein Kapitalmodell eingeführt (vgl. Reder u.a. 2019, 50f.), das dazu dient, starke von schwacher Nachhaltigkeit zu unterscheiden. Der liberalen Gerechtigkeitstheorie John Rawls‘ folgend, werden hier sechs Kapitalformen explizit aufgezählt: Sachkapital, gerechte Institutionen, kulturelles Kapital, akku­muliertes Wissen, soziales Kapital und das in diesem Kontext zentrale, jedoch egalitär behandelte Naturkapital. Im Horizont dieser verschiedenen und zugleich in sich heterogenen Kapitalien werden dann die schwache und starke Nachhaltigkeit unterschieden (vgl. Reder u.a. 2019, 51ff.):

  • die Fürsprecher*innen einer schwachen Nachhaltigkeit argumentieren dafür, dass jener Kapitalstock insgesamt quantitativ für nachfolgende Generationen gleich bleiben solle, wobei das Naturkapital nicht qualitativ privilegiert sei
  • Fürsprecher*innen starker Nachhaltigkeit zeichnen hingegen das Naturkapital vor allen anderen aus und machen dessen beständige Quantität selbst zum Zukunftskriterium; hier sind nur verschiedene Naturkapitalien untereinander substituierbar

Schwache Nachhaltigkeit beruhe oft auf einem Substitutionsoptimismus und gehe häufig mit Vertrauen in zukünftige Technik einher; ohne Substitution ist die starke Nach­haltigkeit zwar ebenso nicht zu vertreten, sie sei aber eher am Ist-Zustand orientiert – in jeder Praxis müsse so oder so abgewogen werden (etwa zwischen politischer/sozialer Unruhe bei Jobverlust und Verlusten nichtregenerativer Ressourcen), so dass es zu pragmatischen Kompromissen komme. Am Ende des Kapitels wird ein Praxisbeispiel zur Diskussion gestellt (Reder u.a. 2019, 55ff.):

Am Beispiel des Münchner Flughafens wird dargestellt, dass dessen Betreiberfirma sich dem Pariser Klimaabkommen von 2016 angeschlossene habe, um bis 2030 CO2-neutral zu werden. Erläutert werden Verbesserungen bei der energieintensiven Beleuchtung, bei Klimaanlagen, Bodenfahrzeugen u.v.m. Der blinde Fleck der Emissionen durch all die Flugzeuge in der Luft, deren Verkehr dieses so nachhaltig gestaltete Flughafengebäude am Boden samt Umgebung ermöglicht und koordiniert, wird bei diesem Beispiel bewusst ausgelassen. So eignet es sich vor allem, um andere Kapitalformen mit dem Naturkapital zu verrechnen.

Das Konzept der Nachhaltigkeit aus Perspektive des Postwachstumsökonomen Nico Paech

Jungs Gespräch mit dem Postwachstumsökonomen Nico Paech dreht sich etwa in der Mitte (0:21:18-0:31:45) [Link zum Ausschnitt: https://youtu.be/9DKN_GRzLUY?t=1278] auch um Nachhaltigkeit. Beide unterhalten sich 60 Minuten in einer Berliner Buchhandlung. Der als Ökonom umstrittene Paech, der sich gegen den an Wachstum orientierten Mainstream der Ökonomie stellt, indem er Null- oder gar Minuswachstum fordert und es ökonomisch wie ökologisch begründet (vgl. Paech 2012), ist im Unterricht wegen provokativer Thesen ein guter Gast. Zumal im Gespräch mit Jung nicht die Validität seiner theoretischen Modelle, sondern deren Konsequenzen in praktischer Hinsicht dominieren. So stellt Paech bei Jung&Naiv ins Anthropologische erweiterte Fragen des individuellen Lebensstils und diskutiert unsere reale Umweltpolitik in Differenz zu einer konsequenten in der Zukunft (vgl. auch Seidl u.a. 2010 und 2019). Er geht zusätzlich auf das Einüben des Verzichtens beim und das freundschaftliche Streiten um Konsum ein, aber auch auf einige spannende Aspekte einer klimafreundlichen Bildung.

Der Vorteil des ethischen Problems der Abwägung zwischen schwacher / starker Nachhaltigkeit liegt aus meiner Sicht – einmal mehr – darin, dass es Modell für viele alltägliche, genauso aber globale Probleme sein kann. Hier ist das Ausgangsproblem ebenso sprachlich und begrifflich zu differenzieren, so dass es für die Ober-, in modifizierter Form (ggf. in vorhandenen Schulbüchern aufbereitet) aber auch für die Mittelstufe geeignet ist. Einmal mehr ist die treffende Integration in die Einheit oder -sequenz notwendig, deren Eignung je nach Aufbereitung der Materialien ab Jahrgang 9 möglich sein sollte. Aufgrund der Länge des Gesprächsauszugs und begrifflich-sachlichen Komplexität sollte in diesem Fall – mindestens eine Doppelstunde zur Verfügung stehen.   

Zur Methode dieses Vergleichs

In diesem Fall handelt es sich zwar nochmals um einen Vergleich zwischen einer diskursiv eingeführten Begrifflichkeit und einem kontroversen Praxisbeispiel und einem audiovisuell inszenierten Diskurs (vgl. Beiträge Teil I und Teil II). Bei diesem Vergleich zwischen schwacher und starker Nachhaltigkeit im Sinne von Reder u.a. und den Aussagen von Paech tritt jedoch stärker die Thematik samt unterschiedlicher Anspruchshaltungen ins Zentrum der vergleichenden Überlegungen (die aber im Falle von Jung&Naiv durch den individuellen Ausdruck Paechs durchaus erneut eine besondere – präsentative – Note bekommen).

1) Erläutern und zusammenfassen:

Ich empfehle wiederum das Wahrnehmen des Gesprächsauszugs im Verlauf des Unterrichts nachzustellen. Zunächst sollte folglich die Begrifflichkeit schwacher und starker Nachhaltigkeit eingeführt werden. Hierzu kann man auf das Kapitalmodell nach Reder u.a. zurückgreifen, man muss es aber nicht – zugunsten des angestrebten Vergleichs sollte das sehr kontroverse Praxisbeispiel des (vermeintlich) nachhaltigen Flughafens hier zwar übernommen werden. Es wäre aber nicht von Nachteil, weitere Beispiele zu ergänzen, die (noch) näher am Alltag der Schüler*innen sind (etwa auf den hohen Energieverbrauch von Streamingdiensten oder Ähnliches bezogen) und von diesen zusätzlich sogar noch besser zu erläutern wären. Graphisch gebündelt werden können die beiden Konzepte übrigens durch zwei Graphiken, die sich problemlos unter dem Stichwort „Nachhaltigkeit“ in Wikipedia finden und dort als die drei Säulen der Nachhaltigkeit gemäß der UN und als Vorrangmodell der Nachhaltigkeit aufgeführt werden. Mittels dieses ggf. dritten Unterrichtsmediums einer Graphik würde man lernpsychologische Vorteile durch eine intuitive Anschaulichkeit erzielen und der Klasse bzw. dem Kurs die problemorientierte Zusammenfassung erleichtern.

Abb. 1: graphische Darstellung schwacher/starker Nachhaltigkeit

Paech beurteilt (bis 0:24:53) die aktuelle deutsche Umweltpolitik, speziell die Unterstützung des „Baubooms“ und des Bodenversiegelns als „systematische Abschaffung der Ökosphäre“, da wirtschaftliches Wachstum immer einen ökologischen Preis fordere. Er stützt seine Kritik auf seinen Hinweis, dass die durchschnittliche Wohnfläche pro Person sich in Deutschland seit den 1950er Jahren verdreifacht – von 15 auf mehr als 45 m2 – habe und provoziert damit, dass diese Frage des Lebensstils und ihre ökonomisch bedingte politische Unterstützung ein „Amoklauf gegen den letzten Rest an ökologischer Vernunft“ sei. Dagegen hätten die Grünen in den 1980ern über ein „Bodenmoratorium“ nachgedacht, das immer noch das Wachstum bremsen könnte, damit danach wertvolle Fläche „zu renaturieren“ wäre.

Abb. 2-4

Nach einer etwas hektischen Polemik gegen die EU und ihre Agrarsubventionen erläutert Paech dann, dass irgendwann der zweite Schritt darin liegen müsse, „Flughäfen und Auto-bahnen still[zu]legen“ (0:25:36), eine radikale Forderung, die Paech nach mehreren bewusst naiv gestellten Rückfragen Jungs erläutert – u.a. sei die „Mobilität neben der Digitalisierung der Sargnagel der Zivilisation“ (0:26:37). Beides führe aufgrund höchster „Zerstörungskraft“ zur direkten ökologischen und indirekt ökonomischen Naturschädigung.

Jung mimt erneut den Naiven, indem er Paech mit typischen Phrasen der Verteidiger*innen eines nichtnachhaltigen Lebensstils konfrontiert (ab 0:28:05). Paech besteht hingegen darauf, dass diese „Barbarei“, deren Maßstab der individuelle „ökologische Rucksack“ sei, legitimer-weise von niemandem beansprucht werden könne und sollte. Er fragt hier offensiv zurück: „Wer gibt dir das Recht dazu?“

2) Analysieren und vergleichen:

Beim gemeinsamen Analysieren mit den Schüler*innen können in diesem Fall wiederum auch zahlreiche formale Unterschiede zwischen diesen ausgewählten Unterrichtsmedien beachtet und reflektiert werden. Es sollte aber in dieser Phase in erster Linie darum gehen, die sowohl beim Praxisbeispiel des nachhaltigen Flughafens als auch in Paechs konträren Provokationen gegebene hohe Kontroversität auf ihre jeweiligen Ursachen hin zu befragen. Die Übertreibung, die im ersten Fall noch im blinden Fleck des Ignorierens der infrastrukturellen Funktion jedes Flug­hafens und im zweiten Fall in den utopischen (?; s.u.) umweltökonomischen Grundsätzen Paechs liegt, muss altersgemäß auf ihre jeweilige rhetorische – ggf. didaktische – Funktion hin befragt werden. Speziell mit älteren Schüler*innen wäre ein zusätzlich vertiefender Vergleich insofern denkbar, dass zu erörtern wäre, wofür die politischen Sympathien bzw. Antipathien in der Klasse bzw. im Kurs zu verzeichnen sind: Treibt sich das Praxisbeispiel aus Reder u.a. selbst ad absurdum – oder handelt es sich bei Paechs Vorstellungen vielmehr um die Dystopie einer sogenannten Ökodiktatur?

3) Erörtern und bewerten:

Mit solch einer möglichen Erörterung würde man sich bereits im Bereich des abschließenden Urteilens zur Thematik bewegen. Auch in diesem Fall sollte dieser Prozess ergebnisoffen zum Abschluss gebracht werden: Welche der zwei Auffassungen von Nachhaltigkeit wird durch die Schüler*innen bevorzugt? Die schwache bzw. schwächste, die sich im Green-Washing des Flughafengebäudes zeigt (oder ist dieses doch eine notwendige Politik der kleinen Schritte?), oder die starke bzw. stärkste im Sinne des Ökonomen eines Postwachstums, den man mögen oder nicht mögen kann, der jedoch keine Bigotterie (oder muss seine Position auch für Paech letztlich zum Selbstwiderspruch führen?) bezüglich des Lebensstils mehr zulässt?

Autor: Florian Wobser (2020)

Abbildungen:

Abb. 1: Drei Säulen der Nachhaltigkeit: https://de.wikipedia.org/wiki/Drei-S%C3%A4ulen-Modell_(Nachhaltigkeit)#/media/Datei:Nachhaltigkeit_-_Drei-S%C3%A4ulen-Modell_und_Vorrangmodell.svg [modifiziert]

Abb.: Jung&Naiv (youtube-Screenshot)

Literatur/Medien

Jung&Naiv Folge 405 (2019): Nico Paech über Post-Wachstums-Ökonomie, Barbarei und Nachhaltigkeit: https://www.youtube.com/watch?v=9DKN_GRzLUY.

Paech, Nico (2012): Befreiung vom Überfluss. Auf dem Weg in die Postwachstumsökonomie. München: Oekom. [siehe auch: http://www.postwachstumsoekonomie.de]

Reder, Michael u.a. (2019): Umweltethik. Eine Einführung in globaler Perspektive. Stuttgart: Kohl-hammer.

Seidl, Irmi; Zahrnt, Angelika. Hg. (2010): Postwachstumsgesellschaft. Konzepte für die Zukunft. Marburg: Metropolis.

Seidl, Irmi; Zahrnt, Angelika. Hg. (2010): Tätigsein in der Postwachstumsgesellschaft. Marburg: Metropolis.