Die Angst der Tiere vor dem Menschen
Bücher mit „Angst“ im Titel schrecken (mich) mittlerweile ab. Zu oft stand der zwar wichtige, aber häufig sich destruktiv äußernde Affekt der Angst in den letzten Jahren im Zentrum der politischen Debatte (und jetzt auch noch die Impfdebatte mit vielen echten, aber auch vielen vorgetäuschten Ängsten – so oder so voller Affekt!). Beim eleganten Langessay des natursensiblen Philosophen Jens Soentgen bildet der Begriff „Ökologie“ jedoch eine Brücke zu einem spannenden umweltethischen Perspektivwechsel. Soentgen geht es nur sekundär um Ängste des Menschen (vgl. S. 99-107), dagegen primär um die Angst der Tiere vor dem Menschen (vgl. u.a. S. 73-94).
Damit sind mehrere auch für diesen Blog wichtige Aspekte verbunden:
Soentgen nimmt erstens eine Grundannahme bezüglich des Diskurses um das Anthropozän ernst (vgl. eigener Beitrag auf doinggeoaandethics zum Buch „Anthropozän“ von Eva Horn und Hannes Bergthaller), indem er ebenso den Tieren eine Sensibilität zuschreibt, die es ihnen erlaubt, auf die Menschen zunächst zu reagieren, dann auch zu agieren, um präventiv bei ihnen durch Menschen ausgelöste Ängste zu vermeiden. Die agency der Tiere, ihre spezielle Handlungskraft, wird durch Soentgen genauso ernst genommen wie die der Menschen, die er das erörterte Geschehen dominieren lässt, ohne aber konzeptionell in einen einseitigen Anthropozentrismus zu verfallen. Vielmehr erlaubt dieser Perspektivwechsel Soentgens eine anschauliche Variante des Physio- bzw. Pathozentrismus, die sich – dem Ernst der Lage etwa bezüglich des aktuellen Verlusts an Biodiversität angemessen – manchmal deprimierend, aber jederzeit faszinierend liest.
"Jens Soentgen, 1967 in Bensberg geboren, ist Chemiker und Philosoph. Seit 2002 ist er wissenschaftlicher Leiter des Wissenschaftszentrums Umwelt der Universität Augsburg und zugleich Adjunct Professor für Philosophie an der Memorial University of Newfoundland in St. John’s, Kanada. Seine wissenschaftlichen und populärwissenschaftlichen Werke liegen in vielen Sprachen vor und wurden mehrfach ausgezeichnet. Zusammen mit dem Chemiker Armin Reller gibt er die inzwischen 10-bändige Reihe Stoffgeschichten heraus (oekom Verlag). Zuletzt veröffentlichte er Wie man mit dem Feuer philosophiert – Chemie und Alchemie für Furchtlose (Peter Hammer Verlag), das 2016 zum »Wissensbuch des Jahres« gewählt wurde." (Matthes und Seitz, Jens Soentgen)
Der Raum der Tiere, Empfinden und Verstehen der Tiere
Zweitens betrifft Soentgens Argumentation das unlängst auf diesem Blog eingeführte Themenfeld Tier-Raum-Mensch, indem Soentgen mehrere Beispiele anführt und erläutert, durch die er aufzeigt, wie der Mensch immer wieder und immer stärker in den Raum der Tiere (im Zentrum des Essays stehen Wildtiere) eindringt und Ängste auslöst. Der Mensch nötige die Tiere zur Flucht, weil diese sich evolutionär an die früheren Gewaltschrecken erinnerten – deshalb sei etwa im Wald tagsüber kaum etwas los, während die Tiere mit der Dunkelheit aktiv würden. Dies sei die Assimilation der Tiere über eine lange Zeit, unabhängig davon, dass mitunter auch in der Nacht gejagt wird. Drittens sei noch einmal die elegante Gestaltung des Essays hervorgehoben, der sich nicht allein außerordentlich gut liest (dabei aber mit vielen Verweisen auf die Wissenschaft und Philosophie keineswegs unterkomplex oder zu spekulativ ist), sondern viele anschauliche Beispiele skizziert, um die These plausibel zu machen und Leser*innen auf eine einleuchtende Weise zu präsentieren. So wird es deutlich, dass sehr viele Tiere empfinden (vgl. S. 36-41) und verstehen (vgl. S. 42-52), wenn Soentgen zusätzlich historische Gewährsleute wie etwa Darwin oder Hans Jonas anführt, um gegen jenen cartesianischen Dualismus zu argumentieren, der alle Tiere zu bloßen Automaten degradierte und bis heute strukturelle Folgen für die Mensch-Tier-Verhältnisse hat.
Unterrichtliche Eignung
Er verbindet eine naturwissenschaftlich informierte Hermeneutik der Ökologie mit einer Phänomenologie der Angst (vgl. S. 53-72), eine Methode, die dem Essay Überzeugungskraft verleiht. Soentgen, der seit vielen Jahren das Wissenschaftszentrum Umwelt der Universität Augsburg leitet, verfasste früher u.a. fachdidaktische Texte und Essays zum Unscheinbaren (dazu zählt aus anthropozentrischer Sicht auch die Angst der Tiere) – noch immer merkt man, dass er auf Vermittlungsprozesse achtet. Dies gilt besonders für sein Abschlusskapitel zur Versöhnung (vgl. S. 108-136) zwischen Tier und Mensch, das den Wandel von erbarmungsloser Jagd auf Wale bis zu dessen Wertschätzung als das Wappentier der Umweltbewegung nachzeichnet (vgl. S. 116-130), ein Textmodell, das in Schulen Wirkungen entfalten könnte und sollte.
Text: Florian Wobser (2021)