Die Reihe Zur Einführung des Junius-Verlags ist im Allgemeinen sehr hilfreich, um sich zum Werk philosophischer bzw. kulturwissenschaftlicher Autor*innen oder komplexer Themen einen ersten Überblick zu verschaffen. Zur Fortführung dieser kleinen Serie zum Transformationsdenken in der Gegenwart eignet sich speziell der im Jahr 2019 erschienene Band zum Anthropozän.
Das „Anthropozän“ ist ein Neologismus, der 1995 von dem Atmosphärenchemiker Paul Crutzen in den umwelt- und klimaethischen Diskurs integriert worden ist (vgl. S. 8). Der Begriff bezeichnet die neue und jüngste Phase in der Reihe der Erdzeitalter, die im Anschluss an das Holozän durch die „menschlichen Einflüsse auf die biologischen, chemischen und geophysikalischen Prozesse des Erdsystems“ (ebd.) geprägt ist. Horn und Bergthaller sind Kulturtheoretiker*innen, die gemeinsam in die Heuristik und die Poetologie des Erdzeitalters einführen. Nach einer kontextualisierenden Einleitung ist ihr Band in die drei Abschnitte Stratigraphien, Metamorphismen und Verwerfungen gegliedert. Diese Überschriften sind genauso neuartig, wie es der zentrale Begriff Anthropozän ist. In diesen Bezeichnungen zeigt sich der performative Versuch, eine neue Situation mit innovativen Termini zu erfassen, um ein anderes Denken – und Wahrnehmen – des Globalen zu provozieren. Diese Begriffspolitik wird hier als Ausdruck des Transformationsdenkens gedeutet, das schließlich nicht nur das Denken um neue Perspektiven bereichern, sondern auch das Handeln der Menschen auf der Erde verändern soll.
Der Begriff des Anthropozäns verbindet Theorie und Praxis, indem er im Kern darauf verweist, „dass der Mensch tiefgreifend und im globalen Maßstab die Ökologie des Planeten verändert“ (.
Eva Horn und Hannes Bergthaller: Anthropozän (2019, S. 9)

Zur Diagnose Horns und Bergthallers zählen auch umweltethische Klassiker der Veränderungen wie z.B. der inflationäre Verbrauch von Rohstoffen und die korrelierende Müllerzeugung samt der Emission von CO2 und dem Verlust der Biodiversität, schädliche menschliche Einflüsse, die in der Summe zum Klimawandel führen. Das neue Erdzeitalter markiere nicht den Fortlauf ökologischer Krisen, sondern einen „Bruch“ (S. 10), der neben der neuen Intensität der Naturvernichtung auch qualitativ neuen Gefahren für die menschliche Zivilisation gleiche. Mit dem Ziel, für die Kritik an dieser anthropozentrischen Entwicklung ein Bewusstsein zu schaffen, sei jener Reflexionsbegriff aus den Naturwissenschaften in den kulturellen Diskurs zu transferieren, innerhalb dessen jener nicht zuletzt Anlässe bilden soll, mittels künstlerischer Interventionen wie Kunstausstellungen die Dringlichkeit eines Bewusstseinswandels zu betonen. Beide Bereiche forderten „eine Neuordnung fundamentaler Begrifflichkeiten“ (S. 13), wozu auch die zählen, die als Unterpunkte der insgesamt drei Hauptkapitel ausgewählt werden: Natur und Kultur, Anthropos, Politik, Ästhetik u.v.m.
Damit der Planet Erde samt aller humaner Tätigkeiten im Sinne eines sich „selbstregulierenden“ Systems im „dynamischen Gleichgewicht“ (S. 14) begriffen werden könne, müsse man die traditionelle Dichotomie zwischen natürlichen und kulturellen Tatsachen aufgeben und ihr Zusammenspiel in Wirklichkeit und in wissenschaftlicher Reflexion aufgewerten. Hierzu greifen Horn und Bergthaller auf Modelle zurück, worin Natur und Kultur heuristisch verknüpft und poetologisch neuartig entfaltet werden (S. 59-79). Sie integrieren u.a. Theorieentwürfe von
- Bruno Latour, der hybride Zusammenhänge aufgreift, in denen nicht allein der Mensch Handlungskraft, sondern gemeinsam mit Dingen und Entitäten sogenannte agency besitzt sowie das globale System auch in politischer Hinsicht als terrestrisches neu denkt.
- Donna Haraway, die neue Verwandtschaften und Allianzen zwischen der Menschheit und den Lebewesen ihrer Umwelt auf ungewohnte Weise entwirft und deren Theoriebildung nicht allein einer phantasievollen Wissenschaftsessayistik entspricht, sondern mit der sie darin sogar über das Anthropozän hinaus geht – ins sogenannte Chthuluzän.
- Rosi Braidotti, die von der langen kulturellen Tradition des Humanismus abweicht und eine bislang unbekannte Anthropologie entwirft, indem sie eine Theorie des sogenannten Posthumanismus entwickelt
Diese sowohl irritierenden als auch sehr anspruchsvollen Theorien sind der Grund, warum im Einführungsband der Abschnitt zum Menschen mit Anthropos – als Variation zu „Mensch“ –überschrieben ist (S. 79-99). Horn und Bergthaller versuchen begriffliche und konzeptionelle Metamorphismen konsequent zum Ausdruck zu bringen und inhaltlich darzustellen. Dies ist ein Grund dafür, dass ihr Band auch für sehr erfahrene Leser*innen von Theorie herausfordernd ist – die Auseinandersetzung mit dem Diskurs über das Anthropozän muss man nicht nur wollen, sondern auch langfristig betreiben. Lässt man sich darauf ein, erhält man Werkzeuge, die eine Gegenwartsdiagnose ermöglichen, die komplex ist und die nach beiden Autor*innen auch Potenzial für die Gestaltung einer anderen Zukunft hat.
Horn und Bergthaller betonen, dass man das Anthropozän nur als „bigger picture“ erschließen bzw. sich eröffnen kann, d.h. als eine letztlich „erweiterte, systemorientierte Perspektive; einen Bezug zwischen dem Lokalen und Singulären und einem planetarischen Gefüge; eine Relation zwischen kurzer, hyper-differenzierter Menschengeschichte und eine Tiefengeschichte des Lebens; zwischen lokalen, individuellen Praktiken und ihren weltweiten Konsequenzen“.
Eva Horn und Hannes Bergthaller: Anthropozän (2019, S. 23)
Zu diesem Bild, das weniger anschaulich als vielmehr abstrakt ist, zählen ebenso Kategorien, die räumliche und zeitliche Zusammenhänge zwischen der Erde und Mensch theoretisch neu erfassen wollen, um das Potenzial für Veränderungen zu erhöhen. Als Stratigraphien (S. 25-58) werden die Definitionsversuche und Merkmale der Epoche des Planeten kritisch vorgestellt, wobei immer wieder auch empirische Daten einfließen, um etwa die Great Acceleration, die für die Dringlichkeit der Risikodiagnose verantwortlich ist, plausibel zu machen, wozu u.a. auch eine Genealogie der Grenzen des Wachstums zählen, die bekanntermaßen im Jahre 1972 durch den Club of Rome erstmals attestiert worden sind. Diese das gesamte Erdsystem bedrohende Entwicklung sollte nicht allein zu theoretischen Verwerfungen, sondern werde zu praktischen Konsequenzen in der Zukunft führen, die eine andere biopolitische – die Weltbevölkerung betreffende – und ressourcenschonende Umgangsweise erfordern, die Horn und Bergthaller gar nicht konkret benennen können, sondern der sie mit ihren Ausführungen zu räumlichen und zeitlichen Skalen einen heuristischen Rahmen verleihen, innerhalb dessen ihre Poetologie praktisch wirksam werden soll (S. 139-212). Wirksamkeit solle von einem Anthropos ausgehen, der kein eurozentrischer mehr sein dürfe, sondern sich global konstituieren müsse, so dass sich beide in ihrem Schlussabschnitt (S. 213-221) auch um eine postkoloniale Perspektive bemühen, die beispielhaft Standpunkte von Theoretiker*innen aus Asien zur Dezentrierung einbeziehen; zudem gibt es im gesamten Verlauf ihres Bandes einige Bezüge auf die jüngeren Forschungen des indischen Historikers Dipesh Chakrabarty.
Bereits an dieser Vorstellung der Intervention Horns und Bergthallers wird deutlich, dass man den Umgang mit diesen konzeptionellen Werkzeugen allein mit viel Aufwand zu beherrschen lernen dürfte. Vielleicht ist dieser Aufwand aber notwendig; schließlich ist die Transformation des Denkens in umwelt- und klimaethischer Hinsicht keine Kleinigkeit, was umso mehr für das Handeln gelten dürfte. In dem Band der Autor*innen erhält man zugleich jedoch ebenso viele eingängige Informationen, z.B. im Abschnitt Politik (S. 100-116) zur globalen Allmende-Problematik bzw. zum Emissionshandel oder zu der sinnvollen Skalierung des individuellen CO2-Fußabdrucks im planetarischen Zusammenhang (vgl. S. 178ff.).[1]

Während Horns und Bergthallers Einführung im schulischen Zusammenhang in erster Linie einer Weiterbildung von Lehrer*innen dienen dürfte und idealerweise zum Experiment bzw. zu der Neuausrichtung des eigenen Denkens des Planeten Erde und all seiner Bewohner*innen im holistischen Sinne führen sollte, umfasst der Abschnitt Ästhetik wiederum Gedanken und Hinweise mit didaktischen Potenzialen für den Geographie- oder Ethikunterricht (S. 117-138). Wahrnehmen tritt hier an die Seite des Denkens und Horn betont, dass die Kunst ein Mittel sei, das die Notwendigkeit einer Transformation anschaulich und erfahrbar machen könne, so dass die geforderte und vorgeführte Heuristik und Poetologie mittels eines sensibilisierten Denkens unterstützt würde. Vorgestellt werden mehrere ausgewählte Kunstwerke, die Bestandteile des Anthropozän-Diskurses sind bzw. aus diesem hervorgegangen sind. So wird eine Vorlesung Latours skizziert, die Caspar David Friedrichs romantisches Landschaftsgemälde „Das Große Gehege bei Dresden“ (1831) aufgreift, dessen Raumgestaltung „tiefgreifende Desorientierung“ (S. 120) zeige und auch bei Betrachter*innen auslöse (vgl. Abb. 1[2]).

Es sei ein Beispiel für den Ausdruck des Erhabenen, der nicht zuletzt nach Kant affektiv wirke und den Menschen zwischen Bedrohung und Bewunderung zur Selbstreflexion veranlasse. Nach Horn soll hieraus eine neue Positionierung in der terrestrischen Immanenz folgen, die auf eine ganzheitliche, aber nicht harmonisierende Weise die Trennung zwischen Subjekt und Objekt bzw. – s.o. – Kultur und Natur suspendiere. Angeführt wird außerdem die seit einigen Jahren lebendige Literaturgattung Nature Writing, die ähnliche poetische Effekte bewirken könne. Mit mehreren Sinnen erfahrbar seien thematisch relevante Installationen, die im Vergleich zur Malerei und Literatur noch besser zur leiblichen Sensibilisierung geeignet seien. Künstlerische Arbeiten von Tara Donovan werden als Beispiele genannt, in denen durch Industrieprodukte aus Kunststoff Naturformen werden (vgl. Abb. 2[3]), hybride Gestaltungen, die einerseits ästhetisch sind und zugleich dem kritischen Denken zwischen Natur und Kultur Impulse geben könnten.
Text: Florian Wobser (2021)
Bilder: Freepik (Titel), weitere Bildverweise s. u.
[1] Hilfreich ist auch der folgende Rundfunkbeitrag:

[2] https://de.wikipedia.org/wiki/Das_Gro%C3%9Fe_Gehege_(Gem%C3%A4lde)#/media/Datei:Caspar_David_Friedrich_007.jpg
[3] https://www.arch2o.com/styrofoam-cup-sculptures-tara-donovan/