In seinem Beitrag Zur Kontroverse um das Kontroversitätsgebot auf dem Philosophieblog prae|faktisch stellt Johannes Giesinger das politisch-liberale Kriterium als potenzielle Lösung für die Frage vor, was in der Schule direktiv oder kontrovers unterrichtet werden soll:

  • Direktiv meint, dass ein Problem mit seiner Lösung oder eine Frage zusammen mit ihrer Antwort unterrichtet wird.
  • Nichtdirektives (oder kontroverses) Unterrichten besteht darin, Themen und die unterschiedlichen Ansichten zu diesem Thema so unparteiisch wie möglich darzulegen. Die Lehrkraft gibt hierbei nicht eine Antwort als die richtige vor und ermöglicht somit den Schüler*innen, die verschiedenen Ansichten selbst zu erkunden.

Den Rahmen für diese Frage bildet der Beutelsbacher Konsens von 1976. Er definiert im deutschsprachigen Raum die Grundsätze der politischen Bildung und umfasst insgesamt drei Grundprinzipien: Erstens das Überwältigungsverbot, zweitens das Kontroversitätsgebot und drittens das Gebot zur Förderung der Analysefähigkeit und Interessenlage der Schüler*innen. Doch eine klare Antwort auf die Frage, welche Inhalte im Unterricht direktiv oder kontrovers unterrichtet werden sollen, gibt der Beutelsbacher Konsens nicht. Daher wurden weitere Kriterien entwickelt, die hierfür eine Orientierung bieten sollen. Zwei davon – das politische und das epistemische Kriteriumgreift Giesinger in seinem Betrag auf und verbindet sie zu einem politisch-liberalen Kriterium.  

Nach Michael Hands Definition des epistemischen Kriteriums (Hand 2008) sollen nur solche Themen kontrovers unterrichtet werden, wenn Ansichten dazu existieren, die nicht der Vernunft widersprechen. Dabei bezieht er sich auf moralische Kontroversen. Er geht allgemein davon aus, dass normative Fragestellungen rational zu beantworten sind. Laut dem politischen Kriterium sind die Grundprinzipien der liberalen Demokratie direkt zu unterrichten, das heißt diese werden als gültig bzw. wahr vermittelt. Gleichzeitig sollen kontroverse religiös-weltanschauliche Fragen kontrovers, das heißt mit offenem Ausgang präsentiert und diskutiert werden.

In seinem Beitrag nimmt Giesinger Bezug auf Johannes Drerup (2022), der, bezogen auf die Frage nach der Kontroversität im Unterricht, ebenfalls eine Verbindung des politischen mit dem epistemischen Kriterium vorschlägt. Nach Drerup soll das politische Kriterium auf die grundlegenden Werte angewandt werden, während das epistemische Kriterium ausschließlich auf wissenschaftlich überprüfbare Aussagen bezogen werden soll. Hierfür sind diejenigen Kontroversen interessant, die sich auf die vordergründige Faktenebene beziehen, beispielsweise ob der Holocaust stattgefunden hat oder ob der Klimawandel menschengemacht ist.

Giesinger kritisiert diesen Ansatz von Drerup, weil dieser in seiner Auffassung des epistemischen Kriteriums moralische Kontroversen ausblendet, wenn er fordert, dass es lediglich auf der Faktenebene angewandt werden soll. Dies stelle einen klaren Unterschied zu Hands ursprünglicher Definition des epistemischen Kriteriums dar. Hierdurch werde, so Giesinger, das liberale Neutralitätsgebot verletzt. Drerups Konzentration auf wissenschaftlich überprüfbare Inhalte in Kombination mit Hands Auffassung, normative Fragestellungen rational klären lassen, führen dazu, dass den Schüler*innen in einem solchen Unterricht eine rationalistische Weltsicht aufgezwungen werde. Dies widerspricht allerdings dem politischen Kriterium, weil religiöse Werthaltungen nicht-rationalen Lebenskonzepten folgen, die unter einer aufgezwungenen rationalistischen Weltsicht nicht mehr kontrovers unterrichtet werden können. Mit Bezug auf Martha Nussbaum (2010) erklärt Giesinger, dass Personen, die nicht-rationale weltanschauliche Positionen vertreten, im schulischen Kontext respektiert werden müssen, damit Schüler*innen nicht aufgrund ihrer religiös-weltanschaulichen Positionierung marginalisiert werden.

Besonders brisant wird Drerups Verbindung der beiden Kriterien vor dem Hintergrund der politischen Bildung von Schüler*innen. Der politische Diskurs fordert rationalistische Standards, doch welche Rolle spielt Evidenz in der Bildung für Heranwachsende Staatsbürger*innen?

Zum einen sollen Tatsachenwahrheiten (wie die oben genannten Beispiele) direktiv unterrichtet werden. Zum anderen, und das sei laut Giesinger viel wichtiger, ergibt sich hieraus „der pädagogische Auftrag, die Offenheit für Evidenz und Argumente zu fördern.“ (Giesinger 2022). Darin liegt das Grundproblem der politischen Debatte. Laut Giesinger führen meist problematische politische Einstellungen, wie beispielsweise rassistische, antisemitische, sexistische oder homophobe Motive oder eine unkritische und übermäßige Loyalität gegenüber einer Gruppe bzw. einer anführenden Person, sowie ideologische Fixierungen, dazu, dass Beweisen nicht geglaubt wird.

Giesingers Lösung besteht nun darin, dass ein direktiver Unterricht in Bezug auf Tatsachenwissen (hat der Holocaust stattgefunden und ist der Klimawandel menschengemacht?) in einem doppelten Sinn diskursiv ausgerichtet sein sollte: Einerseits sollen direktiv unterrichtete Inhalte diskursiv gerechtfertigt werden, damit die Breite der Argumentationslage sichtbar wird und andererseits sollen Lernende in diskursive Praktiken eingeführt werden, um auch ihre eigenen Überzeugungen kritisch prüfen zu können. Der Vorteil einer solchen Unterrichtsweise besteht laut Giesinger darin, dass der Unterricht offen für Kontroversen ist, da Schüler*innen Einwände gegen die direkt vermittelten Inhalte vorbringen können.

Diskursivität im Unterricht gestalten mit der Dilemmadiskussionsmethode

Diverse Faktenlagen verhandeln und Motivlagen verstehen im Planspiel

Gegenüber Drerup sieht sich Giesinger insofern im Vorteil, da er von einem politisch-liberalen Kriterium ausgeht, in das erst in einem zweiten Schritt epistemische Erwägungen einfließen. Hierdurch vermeidet Giesinger das, was er an Drerup kritisiert, nämlich das an Schulen ein rationalistisches Weltbild vorgegeben wird und nicht rationale Wertehaltungen abgewertet werden. Gleichzeitig verzichtet Giesinger nicht auf epistemische Standards, die der gemeinsamen Faktenbasis für den politischen Diskurs Rechnung tragen (s. u. weitere Beiträge des Verfassers).

Johannes Giesinger, Dr. phil, geb. 1972, unterrichtet Philosophie an der Kantonsschule Sargans (Schweiz) und ist affiliierter wissenschaftlicher Mitarbeiter am Ethik-Zentrum der Universität Zürich. Er befasst sich vorwiegend mit Fragen der Erziehungsphilosophie und der Ethik der Kindheit.

Text: Carolin Schmieding (2022)

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Literatur:

Johannes Drerup (2019). Education for Democratic Tolerance, Respect and the Limits of Political Liberalism, Journal of Philosophy of Education 52 (3/2018). http s://doi.org/10.1111/1467-9752.12337

Michael Hand (2008). What Should We Teach as Controversial? A defence of the epistemic criterion, Educational Theory 58 (2/2008), 213–228. https://doi.org/10.1111/j.1741-5446.2008.00285.x

Martha Nussbaum (2010). Perfectionist Liberalism and Political Liberalism, Philosophy and Public Affairs 39(1/2010): 3–45. https://www.jstor.org/stable/41301860

Weitere Beiträge des Verfassers: