Der Philosoph Philipp Wünscher schreibt in seinem Text „Digitale Ortlosigkeit. Über die Politik des Metaverse“ für die Plattform „Geschichte der Gegenwart“ darüber, dass die Digitalisierung zu einem Gefühl der Ortlosigkeit führe, das auch politisches Denken und Handeln prägt. Der Kumulationspunkt dieser Entwicklung ist die Idee eines Metaversums, in dem reale und digitale Sphäre nicht mehr klar getrennt sind. Auch ein Krieg wie der in der Ukraine hat längst eine digitale Komponente und die technologischen Entscheidungen in diesem Zusammenhang haben so großes Gewicht, dass die entsprechenden Digitalkonzerne zu mächtigen politischen Akteuren werden.
Das Phänomen der Ortlosigkeit äußert sich Wünscher zufolge auf zweifache Weise:
- Politik wird seit vielen Jahren abstrakt und ohne Anbindung an konkrete geographische Gegebenheiten gedacht. Statt möglicher militärischer Auseinandersetzungen bestimmen ortsunabhängige Modelle wie das der globalen Marktwirtschaft die Politik des Westens.
- Der Einzelne erfährt das Gefühl der Ortlosigkeit dadurch, dass z. B. „der Weg zur Arbeit überflüssig wird.“ Es ist nicht wichtig, an welchem Ort man sich befindet, wenn man digital zugleich an jeden anderen Ort angebunden werden kann.
Das Aufeinanderprallen der gefühlten Ortlosigkeit und der Härte realer kriegerischer Auseinandersetzung führt zu einer Art Schockzustand. Dafür macht Wünscher auch westliches koloniales Selbstbewusstsein verantwortlich. Darunter versteht er die Annahme, man habe in Europa die Barbarei des Krieges ein für alle Mal überwunden und unterscheide sich dadurch vom vermeintlich unzivilisierten, rückständigen Osten. Seit Ausbruch des Krieges in der Ukraine muss sich der Westen aber damit auseinandersetzen, dass es nun doch wieder eine ganz reale militärische Bedrohung in unmittelbarer geographischer Nähe gibt.
Der Ukraine-Krieg hat neben seiner realen Form aber auch einen digitalen Charakter, der sich in folgende Komponenten einteilen lässt:
- Mediale Komponente: Die Kriegsparteien nutzen sog. soziale Medien, z. B. um den internationalen Druck auf die gegnerische Seite zu erhöhen und Kriegspropaganda zu verbreiten.
- Logistische Komponente: Politisch vermeintlich neutrale Dienste wie Google Maps werden im Kriegskontext neu verwendet, etwa um Flüchtlingsströme sichtbar zu machen. Damit werden große Digitalkonzerne wie Google unmittelbar zu politischen Akteuren, die durch ihre Entscheidungen über Abschaltung oder Aufrechterhaltung ihrer Dienste in bestimmten Regionen in den Krieg eingreifen.
Der digitale Raum wird damit zu einem Ort der Politik und der Kriegsführung. Wünscher ordnet diese Beobachtung in einen allgemeineren Kontext ein: Kommt es zum Zusammenfallen von virtuellen und physikalischen Räumen, spricht man vom sog. Metaversum. Dieses Zusammenfallen kann durch Erweiterung der materiellen Umgebung um digitale Elemente oder durch die Möglichkeit körperlicher Erfahrbarkeit von virtuellen Räumen (z. B. durch Brillen oder Handschuhe) geschehen. Das Metaversum zeichnet sich durch folgende Merkmale aus:
- Es existiert eine reale Ökonomie mit Kryptowährung, digitalem Eigentum und der Möglichkeit zu realer Gewinnschöpfung.
- Echtzeit-Erfahrung: Es gibt keine Möglichkeit der Unterbrechung des virtuellen Geschehens und damit keine Unterscheidung zwischen online und offline. Örtliche und zeitliche Beschränkungen fallen weg.
- Handel und Gewinn sollen im Metaversum keine Notwendigkeit, sondern ein „Luxus der Empfindung“ sein.
Um die ethischen Problemfelder von Plattformen aufzuzeigen, die sich dem Metaversum zuordnen lassen, führt Wünscher zwei Beispiele an:
- Earth2: Es handelt sich um einen exakten Klon der Erde, auf dem zuerst Grundbesitz erworben wird, dessen Ressourcen dann in Form von digitalen Erträgen abgegriffen werden können. Das ist gewissermaßen ein „Durchspielen der Kolonialisierung“ als „Luxus der Empfindung“.
- Soul Machines: KI-basierte virtuelle „Menschen“ sollen als eine Art neue Arbeiterklasse mit Menschen kommunizieren und dabei Betreuung, Beratung und emotionale Arbeit leisten. Ausbeutung und Missbrauch sind hier naheliegend (und haben schwere Auswirkungen auf die Menschen, die Soul Machines und ähnliche Anwendungen nutzen).
Ein weiteres Problem ist, dass große Digitalkonzerne letztlich als die eigentlichen Gatekeeper der neuen digitalen Sphäre angesehen werden müssen, weil sie die Bedingungen zur Teilnahme festsetzen. Das ist vor allem in Hinblick auf das Übergreifen solcher Plattformen auf die Realität bedenklich. Sobald z. B. virtuelle Gewinne auch reale Kaufkraft besitzen, kann nicht mehr von einem bloßen Spiel die Rede sein. Ein weiteres Beispiel für die Vermischung von virtueller und realer Welt ist der militärische Bereich, der zu Übungszwecken Kriegssituationen digital simuliert, Soldaten mit passenden Fähigkeiten gezielt unter intensiven Computerspielern rekrutiert und Drohnen einsetzt, bei denen „die Grenzen zwischen War-Game und realer kriegerischer Auseinandersetzung zumindest ästhetisch ins Fließen geraten.“ Damit werden ebenso wie Spiele auch kriegerische Auseinandersetzungen teilweise ortlos.
Zumindest diese Ortlosigkeit spielt auch im Ukraine-Krieg eine Rolle und zeigt sich „in der zentralen strategischen Frage der NATO-Staaten […]: Wie führt man Krieg, ohne Partei zu sein? Wobei die leicht paradoxe Antwort lautet: Indem man technologisch die Mittel maximiert, mit denen man Partei ergreifen kann, ohne Krieg zu führen.“ Die gezielte Bereitstellung oder Vorenthaltung von digitalen Diensten kann über Satellitentechnik ganz unabhängig von physischer technischer Infrastruktur vor Ort geschehen. Damit sind jedoch große technologische Konzerne die eigentlichen globalen politischen Akteure.
Text: Stefan Walberer (2022)
Bild: Digital wallpaper Vektor erstellt von freepik – de.freepik.com
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