Die Dilemmadiskussionsmethode als Förderinstrument in den Kompetenzbereichen Beurteilung und Bewertung
In der deutschen Geographiedidaktik wird die unterrichtliche Reflexion von wertorientierten Fragestellungen als eine zentrale Bildungsaufgabe gesehen (u.a. Haubrich 1994; Hasse 1995; Rhode-Jüchtern 1995; vgl. zum Überblick Applis 2012, 68-81). Diese kommt in dem Anliegen zum Ausdruck, Schüler*innen darauf vorzubereiten »potentiell in konkreten Handlungsfeldern sach- und raumgerecht tätig zu werden und zu Lösungen von Problemen beizutragen« (DGfG 2019, 26), um sich in ihrem Alltag für eine bessere Qualität der Umwelt, eine nachhaltige Entwicklung, interkulturelle Verständigung und ein friedliches Zusammenleben in der Einen Welt einzusetzen (vgl. DGfG 2019, 28). Entsprechend sollen Schüler*innen zu mehrperspektivischem und wertorientiertem Beurteilen von Handlungen im globalen Kontext befähigt werden. Hierzu werden von manchen Autor*innen Erkenntnisse der moralpsychologischen und moralpädagogischen Forschung für den Geographieunterricht nutzbar gemacht. Als methodischen Ansatz schlägt erstmals Rhode-Jüchtern (1995) der Geographiedidaktik den zentralen Förderansatz der strukturgenetisch-konstruktivistischen Konzepte der Piaget-Tradition vor: die Dilemmadiskussion. Hierfür seien Themen (z. B. Staudammbau in Indien, EU-Agrarsubventionen, humanitäre Katastrophenhilfe) zu wählen, in denen sich Fakten, Meinungen und Interessen auf schwer voneinander zu trennende Weise verbinden:
»Nicht die reinen Fakten – die Oberflächenstrukturen – sind es ja, die einen Fall diskussionswürdig machen, sondern deren Bedeutungen für uns oder für die anderen und die Vernetzungen – die Tiefenstrukturen.«
(Rhode-Jüchtern 1995, S. 22)
Die Grundthese der Forschung zur moralischen Urteilsfähigkeit ist, dass durch moralisches Konflikterleben die je eigenen Strategien der Beurteilung als nicht hinreichend erfahren werden, so dass die Person, um ihr Selbstkonzept wieder in ein Gleichgewicht zu bringen, ihr wertbezogenes Denken und die ihr zur Verfügung stehenden Argumentationsmuster reorganisieren muss. Für die Bildung bedeutet dies, Möglichkeiten konstruktiver diskursiver Auseinandersetzung zu schaffen, eine Differenzierung moralrelevanter Kompetenzen anzustreben und eine Sensibilisierung für das Erkennen von Situationen, in denen das Einbeziehen von ethischen Werten relevant ist, zu erzeugen. Das zentrale Förderinstrument stellt die Dilemmadiskussion als Unterrichtsmethode dar. Lawrence Kohlberg hat die Methode innerhalb seiner Forschung zur Entwicklung der moralischen Urteilsfähigkeit eingesetzt, um die These zu stärken, dass diese Entwicklung linear verläuft in der Weise, dass Personen mit zunehmender Urteilsfähigkeit, immer mehr Perspektiven berücksichtigen können bis zu einer Endstufe, auf der sie allgemeingültige Gerechtigkeitsurteile fällen können. Kohlbergs Forschung wurde im Laufe ihrer Rezeption von verschiedenen Seiten her berechtigt kritisiert – eine Darstellung der Kritik kann innerhalb dieses kurzen Beitrags leider nicht erfolgen. Wichtig für uns ist, dass die Bedeutung der Erfahrung intensiven Konflikterlebens für Entwicklung nicht bestritten wird. Die Dilemmadiskussionsmethode als Unterrichtsmethode bietet einen sicheren Rahmen, innerhalb dessen eine solches Konflikterleben erfahren und begleitet werden kann.
Konzept der Dilemmadiskussion als Unterrichtsmethode
Als über Moralpsychologie, Moralpädagogik, allgemeine Pädagogik, Hirnforschung etc. hinweg anerkannt können zwei Grundeinsichten gelten: Werte sind nicht lehr- und vermittelbar und der Lehrer als Vorbild und Verhaltensmodell spielt eine entscheidende Rolle. Er soll sich als authentische und unverwechselbare Person in den Unterricht einbringen; dazu gehört auch der Mut zur Parteinahme als Entscheidung für gewisse Zielsetzungen, die offen bleibt für Infragestellung und Revision und dem Lernenden Gelegenheit gibt zur Überprüfung, zum Selbstvollzug, zur Beurteilung der Konsequenzen. Dies solle in einem demokratischen Erziehungsstil bewerkstelligt werden, der Partnerschaft, Kooperation und Interaktion auf der Basis von Gegenseitigkeit beinhaltet.
Einsatz der Dilemmadiskussionzur unterrichtlichen Behandlung ethischer Aspekte innerhalb geographischer Fragestellungen
»Zielfelder von Wertelernen sind entsprechend solche, in denen wir Systemwissen, Urteilskompetenz, soziale Verhaltenskompetenz und sozial-politische Handlungskompetenz nacheinander bemühen müssen, wo wir die sechs Stufen von Kohlberg nacheinander auf das Dilemma projizieren, wo wir Verantwortung, Gesinnung, Sach- und Systemzwänge, Verstehensprozesse und Beziehungen (Sympathien, Parteinahmen) aufrufen.«
(Rhode-Jüchtern 1995, S. 23)
In der Diskussion eines fachlich orientierten Dilemmas (Unterrichtsbeispiel Konfliktrohstoff Coltan – Eine Dilemmadiskussion bei Klett-Terrasse) mit widerstreitenden normativen Forderungen zu einem Themengebiet erfolgt eine Auseinandersetzung mit ethischen, sozialen, politischen, ökonomischen und ökologischen Fragestellungen, die abhängig von der Problemstellung und von der Zahl der einnehmbaren Perspektiven mehr oder weniger komplex sind. Die Methode der Dilemmadiskussion als moralpädagogisches Förderinstrument bildet das Rahmengerüst. Der Lehrer wird in der für den Fachunterricht modifizierten Form (vorgeschaltete Sachphasen, z.B. Auseinandersetzung mit Text-, Daten- und Kartenmaterial in der Mystery-Phase oder im Gruppenpuzzle) ausschließlich als Moderator gesehen; die Diskussion ist ergebnisoffen, peergruppenorientiert und demokratisch, insofern sie sich stark am Konzept des selbststeuernden Lernens orientiert. In einer methodisch kontrollierten Abfolge von Einzelarbeit, Kleingruppenarbeitsphasen und Plenumsphasen formulieren die Schülerinnen und Schüler eigene Standpunkte zu den Problemstellungen und diskutieren verschiedene Standpunkte unter Bezugnahme auf fachliche und wertbezogene Fragestellungen, Handlungsverpflichtungen und Handlungs-möglichkeiten. Der folgende Ablauf sieht die Lehrkraft ausschließlich als Moderator*in:

Schüler*innenstimmen zur Arbeit mit der Dilemmadiskussionsmethode im Anschluss an die Arbeit mit der Mystery-Methode
»Und nochmal die Diskussion. Also wir haben ja auch im normalen Unterricht Diskussionen gemacht. Aber ich finde, das kann man überhaupt nicht vergleichen. Denn im normalen Unterricht heißt es immer: Ja, wir haben heute eine Diskussion, ihr habt jetzt zehn Minuten Zeit, euch Argumente zu überlegen und dann wird diskutiert.«
»Ja, dann fallen dir normalerweise vielleicht drei Argumente ein, die total mies sind, aber so hat man wenigsten eine Grundlage, auf der man diskutieren kann. Man hat einfach mehr Vorarbeit.«
»Also ich fand auch gut, dass der Lehrer mal einfach so ein Zwischenmann war zwischen der einen und der anderen Seite. Also bei der Diskussion hat er sich gar nicht eingemischt. Das fand ich gut. Denn manche Lehrer meinen dann den Schülern ihre Meinung aufdrücken zu müssen. Und durch die ganze Vorarbeit waren wir ja schon gut informiert.«
Die folgenden Aspekte sprechen laut geographiedidaktischer Forschung für den Einsatz der Dilemmadiskussion als Unterrichtsmethode:
- Wert- und Normorientierung sind den im Geographieunterricht behandelten Inhalten implizit; eine Aufgabe des Geographieunterrichts besteht darin, das Implizite in Lehr-Lern-Prozessen explizit zu machen, u. a. in Diskussionsmethoden
- Der perspektivisch offene Wandel von Gesellschaft kann demokratisch nicht mit dem festem Vorgeben inhaltlicher Begründung von Werten begleitet werden; an deren Stelle muss die Praxis des situationsorientierten Aushandelns von auf der Basis idealer Gleichheit treten, womit die Bedingungen des Aushandelns gleichwohl normativen Setzungen unterliegen.
- An die Stelle der Dominanz von Unterrichtsinhalten treten Formen der Perspektivübernahme und der sozialen Problemlösefähigkeiten, wie das Anwenden von Gerechtigkeitsurteilen.
- Kinder und Jugendliche können Interessen und Werte nur vor dem Hintergrund ihrer eigenen Lebensgeschichte identifizieren und reflektieren. Die Maßstäbe für Interessen und Werte können sie nur durch eigene Lebenserfahrung finden.
Literaturhinweise
Applis, S. (2016). Research on the Challenges of Introducing the Dilemma Discussion for the Support of Judgment Competence in the Geography Classroom. Research in Geographic Education 18(1), 25-40.
Applis, S. (2014). Global Learning in a Geography Course Using the Mystery Method as an Approach to Complex Issues. Review of International Geography Education online (RIGEO) 4(1), 58-70. Abrufbar unter: http://www.rigeo.org/vol4no1/Number1spring/RIGEO-V4-N1-4.pdf
Applis, S. & Ulrich-Riedhammer, M. (2013). Ethisches Argumentieren als Herausforderung. Die Vielperspektivität globaler Fragestellungen dargestellt am Beispiel der Textilproduktion. PG 3(2013.). Abrufbar unter: https://www.westermann.de/anlage/3232131/Ethisches-Argumentieren-als-Herausforderung-Die-Vielperspektivitaet-globaler-Fragestellungen-dargestellt-am-Beispiel-der-Textilproduktion
Applis, S. (2012). Wertorientierter Geographieunterricht im Kontext Globales Lernen. Theoretische Fundierung und empirische Untersuchung mit Hilfe der dokumentarischen Methode. (=Geographiedidaktische Forschungen, Bd. 51). Weingarten: Hochschulverband für Geographie und ihre Didaktik (Selbstverlag). Abrufbar unter: https://www.uni-muenster.de/imperia/md/content/geographiedidaktische-forschungen/gdf_51_applis.pdf
DGfG – Deutsche Gesellschaft für Geographie (Hrsg., 2019): Bildungsstandards im Fach Geographie für den Mittleren Schulabschluss – mit Aufgabenbeispielen. Berlin. https://geographie.de/wp-content/uploads/2014/09/geographie_bildungsstandards.pdf
Hasse, J. (1995). Emotionalität im Geographieunterricht. Geographie heute 17(96), 13-17.
Haubrich, H. (1994). Internationale Charta der Geographischen Erziehung (=Geographiedidaktische Forschungen, Band 24). Nürnberg: Hochschulverband für Geographie und ihre Didaktik (Selbstverlag). Rhode-Jüchtern, T. (1995). Der Dilemma-Diskurs. Ein Konzept zum Erkennen, Ertragen und Entwickeln von Werten im Geographieunterricht. Geographie und Schule 17(96), 17-27.
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