Fallstudien zur Ausbildungskultur im Referendariat am Beispiel von Beurteilungen
In explorativer Absicht soll an einigen Sequenzen aus schriftlichen Beurteilungen von Referendaren überprüft werden, ob sich empirische Evidenzen für die These latenter Probleme kollegialer Kooperation finden lassen. Im Kontext der Doppelrolle und des Prüfungsproblems eröffnet dieser Materialzugriff eine interessante Perspektive. Die Form der schiftlichen Beurteilung zwingt die Gutachter nämlich dazu, über eine notenförmige Bewertung […] hinaus ihre Erwartungen an die Referendare zu artikulieren. Darin sind nicht nur die Kriterien der jeweiligen Beurteilung enthalten; darüber hinaus dokumentieren schriftliche Beurteilungen grundlegende Haltungen zu der Ausbildungssituation und ihren Ansprüchen und vor allem auch eine (implizite und explizite) Selbstthematisierung der Rolle des Ausbilders/Gutachters; auch in Bezug zu den zu beurteilenden Referendaren. […] So erwarten die Autoren von der schriftlichen Beurteilung jenseits ihrer vordergründigen und offiziellen Pragmatik Auskunft nicht über die zu beurteilende Person, sondern Auskunft über eine praktizierte Ausbildungskultur.
Wernet, Andreas: Konformismus statt kollegiale Anerkennung: Fallstudien zur Ausbildungskultur im
Referendariat am Beispiel von Beurteilungen – In: Pädagogische Korrespondenz (2009) 39, S. 46-63.
In der neuen Rubrik #Studien zum Lehren und Lernen des Blog-Projektes Doing Geo & Ethics werden schrittweise für Lehrkräfte relevante Einzelstudien veröffentlicht, die dazu anregen sollen, sich mit Forschungsergebnissen zum Lehren & Lernen in Originalbeiträgen auseinanderzusetzen. Zum einen mag damit ein offeneres Bild von Schule entstehen vor dem Hintergrund von organisierter Ausbildung an der Universität und in der staatlichen Aus- und Weiterbildung von Lehrkräften, welche häufig einfachen Organisations- und Selektionslogiken folgen. Zum anderen kann man vor dem Hintergrund der Ergebnisse von Studien das eigenen Lehren reflektieren.
Theoretische Rahmung: Antinomien der Ausbildungssituation (Ulrich Oevermann, Werner Helsper), Habitusansatz (Pierre Bourdieu)
„Es ist nicht von der Hand zu weisen, dass die Doppelrolle Ausbilder/Prüfer die Ausbildungsinteraktion potentiell belastet. Denn sie wirft die Frage auf, ob nicht die Art und Weise, wie ich mich als Referendar in den Ausbildungssituationen verhalte, im Studien- oder Fachseminar oder im Gesprächmit den Mentoren, negative Folgen für meine Beurteilung hat. Selbstverständlich, übrigens ganz in Übereinstimmung zur schulisch-unterrichtlichen Situation, führt die Doppelrolle, sei es direkt (z.B. in Form von schriftlichen, nicht-formalisierten Beurteilungen), sei es indirekt (durch subkutane, latente Effekte bei der formalisierten Benotung) zu einem Zuwachs an Diffusität und damit zu einer Abnahme formaler Kontrollierbarkeit der Leistungssituation; und das heißt wiederum, dass, mit Bourdieu gesprochen, habituelle Dispositionen zu einem Parameter der Beurteilung werden.“ (Wernet 2009, S. 3)
Forschungsansatz: Sequenzanalyse anhand periodischer Beurteilungen
„Die […] interpretierten Sequenzen entstammen „Gesamtbeurteilungen“ durch den Hauptseminarleiter (Brandenburg). Diese Gesamtbeurteilungen erfolgen auf der Grundlage von Beurteilungen durch die Ausbildungslehrkräfte (Mentoren) und durch die Fachseminarleiter. Die Note dieser Gesamtbeurteilung geht mit fünfzigprozentiger Gewichtung in die Gesamtnote der zweiten Staatsprüfung ein. Vgl. Brandenburgische Ordnung für den Vorbereitungsdienst, §§ 17; 29.“ (ebd.)
Forschungsmethode: Objektive Hermeneutik (Ulrich Oevermann)
Zur Objektiven Hermeneutik: https://methodenzentrum.ruhr-uni-bochum.de/e-learning/qualitative-auswertungsmethoden/objektive-hermeneutik/; https://home.uni-leipzig.de/methodenportal/objektive-hermeneutik/; https://www.ph-freiburg.de/quasus/was-muss-ich-wissen/daten-auswerten/objektive-hermeneutik.html
Forschungsergebnisse
„Keine der analysierten Sequenzen verweist sinnstrukturell auf ein Modell einer Ausbildungskultur im Geiste eines kollegialen Austauschs. Der kleinste gemeinsame Nenner der hier betrachteten Textstellen kann vielmehr in einem auf Unterwerfung und Anpassung beruhenden Ausbildungsverständnis gesehen werden. Bezüglich dem einleitend thematisierten Problem der Asymmetrie der Ausbildungssituation und der Doppelrolle, die sich herstellt, indem die Ausbilder zugleich als Prüfer erscheinen, erlauben die Befunde der Inter-pretation wichtige Modifikationen. Zunächst verdeutlichen sie, dass die pragmatisch erzwungene Asymmetrie der Ausbildungssituation nicht schon den Stil der Ausbildung vorentscheidet. Die Art und Weise, in der die Beurteilungen berufliche Adäquanzmodelle mobilisieren, entlang derer sie zur Einschätzung der zu Beurteilenden gelangen, kann sich nicht auf das bloße Vorliegen der Asymmetrie berufen. Die autoritativen, infantilisierenden und technokratischen Orientierungen, die in den interpretierten Beurteilungssequenzen aufscheinen, sind weder durch die Ausbildungs-, noch durch die Beurteilungspragmatik prädeterminiert. Sie können sich nicht darauf berufen, eine notwendige Folgeerscheinung eines qua Institutionalisierung erzeugten Handlungsproblems zu sein. Das Obwalten des hier angetroffenen Konformismus vollzieht sich gleichsam im Schutze der ausbildungspragmatischen Asymmetrie. Sie ist dabei allenfalls als Bedingung der Möglichkeit der konformistischen Adressierung zu sehen; nicht als deren kausale Verursachung. Deshalb müssen wir die interpretatorischen Befunde auf theoretischer Ebene als Ausdruck berufs- und ausbildungskultureller Dispositionen, nicht als Ausdruck institutionalisierter Gegebenheiten in Rechnung stellen. Die Delegation des Problems an institutionalisierte Strukturen verdeckt den Blick auf die problemerzeugenden, ausbildungshabituellen Strukturen. Und die fälschlicherweise vorgenommene kausale Attribuierung an die institutionalisierten Verhältnisse verhindert nicht nur eine „Linderung“ durch eine angemessene Problembearbeitung; sie trägt darüber hinaus zur Reproduktion des Problems bei. Unsere explorativen Fallrekonstruktionen lassen nicht nur eine institutio-nalisierungskritische Problemdeutung als fragwürdig erscheinen; sie geben auch keinen Anlass dazu, ausbildungsmisanthrope Ressentiments zu schüren. Der konformistische Geist, der uns in unterschiedlichen Facetten begegnet ist, wäre falsch verstanden, würde er mit Missgunst gleichgesetzt werden. Wir haben oben argumentiert, dass die Diffusität der Prüfungssituation ein Problem der formalen Kontrolle aufwirft. Den Referendaren steht eine forma-lisierbare Berufungsinstanz nicht zur Verfügung. Sie müssen auf die materiale Angemessenheit ihrer Beurteilung vertrauen. Die Befürchtung, dieses Defizit formaler Kontrolle führe zu einer „unfairen“ Beurteilung, erweist sich im Lichte der hier analysierten Beurteilungssequenzen als unbegründet. Nichts deutet darauf hin, dass die Ausbilder ihre superiore Position in einer gleichsam sadistischen Weise ausnutzen wollen. Im Gegenteil. Die Texte sind eher von Wohlwollen als von Missgunst gegenüber den zu Beurteilenden gekennzeichnet. Die Gutachter sind sichtlich bemüht, die Stärken herauszustreichen und die Schwächen nicht überzubetonen. Es ist zwar vorstellbar, dass die so Beurteilten inhaltlich der Einschätzung ihrer Stärken und Schwächen nicht zustimmen und sich tatsächlich durch die Beurteilungen ungerecht behandelt und benotet fühlen. Aber auch wenn wir diese Möglichkeit nicht ausschließen können, geben die analysierten Texte keinen Anlass zu der Befürchtung, die Ausbilder formulierten ihre Beurteilungen in einer überkritischen oder gar schädigenden Weise. Die konformistische Anpassungs- und Unterwerfungslogik ist, auch in der oben rekonstruierten autoritativen Variante, keine Tyrannei. Aber sie installiert eine Ausbildungskultur, die nicht nur die Erwartungen an eine intellektuell anspruchsvolle, diskursive und kollegiale Ausgestaltung des Referendariats nicht erfüllt. Sie bleibt auch deshalb unbefriedigend, weil sie den Ansprüchen, die sie selbst im Munde führt – Selbstreflexivität und diskursiver Austausch spielen ja in den Beurteilungen inhaltlich eine große Rolle –, nicht nachkommt. Sollten die im Dienste der Prägnanz ausgewählten Fallbeispiele und Sequenzstränge nicht eklatante Ausnahmen darstellen, dann zeugen sie sehr wohl von der Idee einer reflexiven und diskursiven Ausbidungskultur. Diese Idee scheint aber mehr als legitimatorisches Sprachinventar vorzuliegen denn als lebendige Kultur. Als bloße Floskeln erinnern die Beurteilungssequenzen an ein Modell kollegialer Anerkennung im Modus des diskursiven Austauschs, dem sie selbst nicht folgen. Das ausbildungskulturelle Defizit, das in den interpretierten Texten zum Ausdruck kommt, besteht im wesentlichen darin, dass ein Ausbildungsverhältnis gesetzt wird, das nicht von dem Geist getragen ist, dass die erfolgreiche Ausbildung zu einer Statusgleichheit zwischen Ausbilder und Auszubildendem führt.“ (Wernet 2009, 60f.)
Zum vollständigen Aufsatz:
Andreas Wernet ist Professor für Schulpädagogik an der Leibniz Universität Hannover. Wernet gilt als Vertreter der objektiven Hermeneutik. Er beschäftigt sich insbesondere mit Fallrekonstruktionen aus dem schulischen Kontext und mit pädagogischer Entgrenzung und entwickelte auf dieser Basis das Konzept der pädagogischen Permissivität. (wikipedia)
Text: Wernet, Andreas: Konformismus statt kollegiale Anerkennung: Fallstudien zur Ausbildungskultur im Referendariat am Beispiel von Beurteilungen – In: Pädagogische Korrespondenz (2009) 39, S. 46-63 – URN: urn:nbn:de:0111-opus-57302 – DOI: 10.25656/01:5730