Überblick: Ansätze und Befunde aktueller empirischer Forschung
Professionalisierung, De-Professionalisierung und das Theorie-Praxis-Problem
Im Editorial zur Zeitschrift für interpretative Schul- und Unterrichtsforschung (ZISU) 3 (2014) geben Andreas Bonnet und Uwe Hericks einen Überblick zu Ansätzen in der Professionsforschung zum Lehrer*innenberuf. Dabei widmen sie sich der Frage, inwiefern der Lehrer*innenberuf überhaupt als Profession verstanden werden kann. Da ältere Professionskonzepte auch bei heutigen Berufsgruppen wie Ärzt*innen, Anwält*innen nur noch bedingt greifen (z. B. weitgehende Unabhängigkeit in der Berufsausübung), wendet sich die Professionsforschung auch bei Lehrkräften heute eher der Untersuchung von Phänomenen zu, die als Professionaliserung oder De-Professionalisierung beschrieben werden können und betrachtet, welche Faktoren zu solchen Prozessen beitragen.
In der neuen Rubrik #Studien zum Lehren und Lernen des Blog-Projektes Doing Geo & Ethics werden schrittweise für Lehrkräfte relevante Einzelstudien veröffentlicht, die dazu anregen sollen, sich mit Forschungsergebnissen zum Lehren & Lernen in Originalbeiträgen auseinanderzusetzen. Zum einen mag damit ein offeneres Bild von Schule entstehen vor dem Hintergrund von organisierter Ausbildung an der Universität und in der staatlichen Aus- und Weiterbildung von Lehrkräften, welche häufig einfachen Organisations- und Selektionslogiken folgen. Zum anderen kann man vor dem Hintergrund der Ergebnisse von Studien das eigenen Lehren reflektieren.
Ein Zweig der Professionsforschung ist die Forschung zum Referendariat als Zeitspanne, in der u. a. Phänome der De-Professionalisierung untersucht werden. Darunter werden u.a. Prozesse gefasst, die zu einem Rückgang des Professionswissens im Verlauf des Referendariats führen. So hat sich u.a. in Studien gezeigt, dass Referendar*innen vor dem Eintritt in das Referendariat über mehr explizites fachdidaktisches, pädagogisches und psychologisches Wissen verfügen als am Ende des Referendariats. Dieses Phänomen gehört in das Feld des Theorie-Praxis-Problems: Damit wird das Problem bezeichnet, dass universitäre und schulische soziale Welten weitgehend getrennt voneinander existieren, wodurch zum einen kaum ein Wissenstransfer aus fachiddaktischer und erziehungswissenschaftlicher Forschung in die Schule erfolgt und im Gegenzug universitäre Praktiker*innen wenig Zugang erlangen zur Expertise schulischer Praktiker*innen – verschärft wird das Problem durch in manchen Bundesländern sehr weitgehende Forschungseinschränkungen an Schulen. Eine der Hauptursachen des Theorie-Praxis-Problems ist eine oft mangelnde Anerkennung für unterrichtliches Tun von Schüler*innen sowie Lehrkräften auf Seiten universitärer Expert*innen. Aus universitärer Perspektive gilt dieses häufig als defizitär und verbesserungswürdig, während universitäres Tun Lehrkräften oft als praxisfern erscheint und nur oberflächlich am unterrichtlichen Handeln interessiert.
Das gravierendste Resultat ist, dass Lehrkräfte heute – etwa im Gegensatz zu einer offenen Forschungskultur in den 1970er Jahren – weniger Unterstützung erhalten zur Weiterentwicklung und Reflexion ihres unterrichtlichen Tuns, während die Herausforderungen ihrer Arbeit immer komplexer werden und die Zahl an Aufgaben ständig steigt. Manche Beobachter*innen stellen in diesem Zusammenhang auch eine steigende „Wagenburgmentalität“ und Abschottung gegenüber universitärer Expertise auf Seiten von Kultusministerien fest.
Ein weitere Folge für die Ausbildung an Universitäten ist, dass man auf in Fachdidaktiken und Erziehungswissenschaften seit wenigen Jahren immer häufiger dazu übergehen muss, Lehr-Videos von Unterrichtspraxis aus datenschutzrechtlichen Gründen von erwachsenen (studentischen) Schauspieler*innen spielen zu lassen und das darin enthalten praktische Tun theoretisch ableiten muss. Zudem können universitäre Abschlussarbeiten häufig nicht mehr mit Durchführungen und Erhebungen an Schulen verbunden werden, wodurch die von Lehrkräften oft attestierte Praxisferne von Berufsanfänger*innen noch weiter steigt.
Gleichwohl ist Forschung möglich und nimmt in bestimmten Bereichen auch wegen eines informellen Abbaus von Hierarchien in manchen Feldern des Schulsystem zu, weil Lehrkräfte ihren Unterricht öffnen. D. h. Praktiker*innen haben grundsätzlich Zugang zu Forschungsexpertise und so Zugang zu einer Reflexion von Außenperspektiven auf das Praxisfeld, innerhalb dessen sie arbeiten.
Das Feld der Professionsforschung zum Lehrer*innenberuf
Das ZISU-Heft 3 (2014) gibt einen sehr guten Einblick in Facetten der nicht-quantitativen Forschung zum professionellen Handeln von Lehrkräften. D. h. es werden – zumeist von jüngeren Forscher*innen – Beiträge präsentiert zu Forschungen, die Daten durch (ethnographische) teilnehmende Beobachtung, qualitative Interviews, Gruppendiskussionen etc. erhoben haben und so – mit Hattie gesprochen – Einblicke bieten in die Tiefenstrukturen von unterrichtlichem Handeln. Die Daten wurden jeweils interpretiert mit Methoden der empirischen Sozialforschung, u. a. der Objektiven Hermeneutik und der Dokumentarischen Methode. Nicht berücksichtigt sind Beiträge, die auf dem rein quantitativen Erheben von expliziten Wissensbeständen beruhen, da die Forscher*innen im berücksichtigten Feld der Professionsforschung davon ausgehen, dass nur durch engen Bezug auf unterrichtliche Praktiken, reliable Aussagen über unterrichtliche Praktiken gemacht werden können. Entsprechend ist die untersuchte Stichprobe immer klein, im Sinne der soziogischen Typenbildung nach Max Weber sind davon ausgehend aber dennoch typische Strukturen, die die Praktiken der Angehörigen der gesamten Profession prägen, ableitbar.
Text: Stefan Applis (2022)
Alle Beiträge sind im im Open-Access unter folgendem Link zugänglich: ZISU 3 (2014): Professionalisierung und Deprofessionalisierung im Lehrer/innenberuf


Zum vollständigen Aufsatz:
Andreas Bonnet ist Professor für Didaktik der englischen Sprache und Literatur an der Universität Hamburg.
Uwe Hericks ist Professor für Allgemeine Didaktik, Schul- und Bildungstheorie am Fachbereich Erziehungswissenschaften an der Philipps-Universität Marburg; er hat Mathematik und Physik für Lehramt am Gymnasium studiert.
Zugang zu weiteren Open-Access-Publikationen zur Unterrichtsforschung der ZISU bei Budrich-Journals:
