Didaktische Zielsetzungen des Welthandelsspiels

Das Welthandelsspiel (WHS), wie hier vorgestellt wird, greift auf den Entwurf der Christian Aid (o.J.) zurück. In jenem Entwurf liegt der Lernzielfokus primär – wenn auch nicht ausschließlich – auf faktischer Ebene, d.h. die Simulation globaler Handelsstrukturen soll den Jugendlichen vor Augen führen, wie bspw. die in der globalen Ökonomie vorherrschenden Verhältnisse, die heterogenen Voraussetzungen von Ländern mit unterschiedlichem Entwicklungsstand sowie die daraus entstehenden Interdependenzen und Handlungsmöglichkeiten. Dabei sollen sie Grundprinzipien des globalen Handels kennenlernen, weitere Auswirkungen geographischer Prozesse erfahren (z.B. demographische Entwicklungen, Naturkatastrophen, etc.), sowie Entscheidungs- und Abstimmungsdynamiken individueller, kollektiver und institutioneller Akteure nachvollziehen. Auf diese Weise sollen die Lernenden verstehen, dass lokale Akteursentscheidungen Auswirkungen auf den globalen Markt haben können und umgekehrt.

Grundsätzlich zählt das WHS als Planspiel zu den Simulationsspielen, wobei sich auch Charakterzüge des Rollenspiels wiederfinden lassen (vgl. Meyer, 2011). Vergleicht man das WHS mit den gängigen Merkmals listen von Spielen , so lässt sich feststellen, dass das WHS die meisten dieser erfüllt. Allerdings gibt es auch Unterschiede: Zwar werden den Spielern die gleichen Rechte zugestanden, nicht aber die gleichen Beteiligungs- und Gewinnchancen (s.u.). Daraus folgt auch, dass das Ergebnis und die Abläufe des WHS nicht vollkommen offen und ambig sind. Dennoch wird hier argumentiert, dass es gerade das Fehlen fairer Beteiligungs- und Gewinnchancen ist, das die Besonderheit und den Mehrwert des WHS ausmacht: Auf diese Weise wird den Lernenden die Auseinandersetzung mit den Antipoden der ethisch als erstrebenswert deklarierten Werte ermöglicht, sodass tiefgreifende Lerneffekte möglich erscheinen. Das WHS weist zahlreiche ethische Implikationen auf und sorgt dafür, dass Prozesse des Urteilens und Prozesse des Handelns – beides in doppelter Bedeutung, d.h. wirtschaftlich-strategisch und ethisch – in einem schnellen, komplexen und sich überlagerndem Wechselspiel stehen. Der „Als Ob-Charakter“ des WHS eröffnet den Jugendlichen Spielräume für Probe-Handlungen, sodass der große Vorteil des WHS darin besteht, dass ethische Werte und deren Antipoden nicht nur diskursiv zugänglich, sondern auch erfahrbar werden. Die Unfairness des Spiels, die damit verbundenen (Ohn-)Machtverhältnisse, die Dürftigkeit der Spielregeln sowie die Möglichkeit, subjektive Präferenzen einzubringen, bilden den Ausgangspunkt der Auseinandersetzung mit eigenen und fremden Vorstellungen über jene Werte. Essenziell ist es aber, dass das WHS – obwohl es zunächst Verunsicherung oder gar Unmut bei seinen Spielern hervorrufen kann – dennoch alle relevanten Kriterien zur Anbahnung ethischen Urteilens erfüllt und somit eine Basis zur Auseinandersetzung mit positiven wie auch negativen Spielgeschehnissen ermöglicht, wie auch ausgehend davon Fragen der Übertragbarkeit der Spielrahmung auf andere Rahmen (bspw. Freundschaft, Klassengemeinschaft, nationale oder glokale Gesellschaften) gewährleistet. Auf spielkonzeptioneller bzw. -theoretischer Basis lässt sich somit die Hoffnung auf Potenziale für erfahrungsbasiertes Lernen begründen. Ausgehend von gängigen Merkmalen von Spielen, von präskriptiven Forderungen wie auch von empirischen Erkenntnissen im Bereich des ethischen Urteilens, lässt sich somit konstatieren, dass das WHS eine geeignete Unterrichtsmethode darstellt, um ethisches Urteilen im Geographieunterricht anzubahnen.

Methodische Analyse: Spielmechanismus und Spielinhalt des Welthandelsspiels

Das WHS besteht aus einer 60-minütigen Spielphase und einer 30-minütigen Metareflexionsphase. In der Spielphase treten sechs Spielgruppen (je zwei Industrie-, Schwellen-, und Entwicklungsländer) gegeneinander an, während drei Sonderrollen (Spielleiter, Weltbank, Spielbeobachter) vorgesehen sind. Das Spielziel besteht für jede Spielgruppe darin, so viel Profit wie möglich zu erwirtschaften. Mit den Spielmaterialien sollen verschiedene geometrische Formen mithilfe von Tonpapiervorlagen, Papier, Bleistiften, Linealen und Scheren hergestellt werden und bei der Weltbank abgegeben werden. Diese überprüft die produzierten Formen anhand ihrer eigenen Tonpapiervorlagen und aktualisiert bei bestehender Passgenauigkeit den Kontostand der Spielgruppe entsprechend der aktuellen Wertigkeit jener Form. Die Spieler wissen zu Spielbeginn nicht, dass nicht alle Gruppen die gleichen Spielmaterialien bekommen und somit unterschiedliche Voraussetzungen das Spiel bestimmen . Dabei ist es den Gruppen selbst überlassen, wie sie das Spielziel erreichen und wie sie anderen Spielgruppen gegenübertreten, d.h., ob sie mit diesen Tauschhandel betreiben, Bündnisse schließen, Materialien teilen oder aber, ob sie sich dazu entscheiden, das Spielziel ohne den Kontakt zu anderen Spielgruppen zu erreichen.

Spielmaterialien: Tonpapiervorlagen für geometrische Formen, die aus Papier (Rohstoffe) mit Hilfe von Bleistiften, Linealen und Scheren (Produktonsmittel zur Rohstoffverarbeitung) hergestellt werden müssen.

Die Aufgabe der Spielleitung besteht darin, das Spielgeschehen zu steuern und neue Spielimpulse zu setzen, indem z.B. die Preise der Formen im Sinne von Angebot und Nachfrage angepasst, neue Rohstofflagerstätten entdeckt, Geburtenrückgange in den Industrienationen bzw. Bevölkerungsexplosionen in Entwicklungsländern simuliert werden. Die Spielleitung kann aber auch Streiks in Ländern ausrufen oder Entwicklungshilfe (z.B. Schere, zusätzliche Rohstoffe, etc.) geben.

Die vor Spielbeginn durch die Lehrkraft erläuterten vier Spielregeln bestehen darin, dass (1) alle Formen entsprechend der Vorlagen exakt ausgeschnitten sein müssen, wobei (2) nur das ausgeteilte Material verwendet werden darf, (3) Handgreiflichkeiten untersagt sind, und (4) die Spielleitung im Fall von Streitigkeiten in der Funktion der Vereinten Nationen (UN) hinzugezogen werden kann. Die Spielregeln reichen allerdings nicht aus, um alle möglichen Strategien und Verhaltensweisen im Spiel zu regulieren, sodass Unsicherheiten darüber entstehen, welche dieser als regelkonform gelten können und welche nicht. Aufgrund der Notwendigkeit von Handelsbeziehungen stellen sich für die Spielenden somit auch zahlreiche, komplexe Fragen, die nicht nur das richtige, strategische, auf ökonomische Profitmaximierung ausgerichtete Urteilen und Handeln, sondern die auch das in ethischer Hinsicht richtige Urteilen und Handeln betreffen.

Vollständige Materialien mit Hinweisen zur Spieldurchführungen als Word-Dokument zum Download:

Didiaktische Reflexion der ethischen Komplexität im Welthandelsspiel

Ökonomische Systeme sind immer zugleich auch soziale Systeme, d.h. Ökonomie und Ethik weisen eine Verbundenheit auf, die mitunter auch durch Spannung gekennzeichnet sein kann, denn „[…] während die Ethik nach sozialer Gerechtigkeit und insofern nach einem allgemein verträglichen Konsens sucht, strebt die Ökonomie, und mit ihr jedes einzelne Unternehmen nach größtmöglicher Effizienz zum Zwecke der individuellen Gewinnerzielung“ (Kuttner, 2015, 9). Es ist jener Gegensatz, der sich in der eingangs wiedergegebenen Befürchtung der Lehrkraft widerspiegelt und der die Spielkonzeption des WHS bestimmt. Der Entwurf der Christian Aid (o.J.) greift jene Spannung insofern auf, als dass in der Vorlage für die im Anschluss an die Spielphase stattfindende Metareflexion vorgeschlagen wird, die Spielenden zu fragen, was bspw. im Spiel nicht fair war, was fair bedeutet und wie die Welt dementsprechend fairer gestaltet werden kann (vgl. Christian Aid, o.J., follow-up discussions). Aus Sicht des Autors geht die Konzeption des WHS aber weit über diese in Ansätzen gekennzeichnete Ebene hinaus. Die durch strukturelle Ungleichheit gekennzeichnete Ausgangssituation bedingt einerseits Interdependenzen zwischen den Spielgruppen, da jede Gruppe früher oder später auf (Handels-)Kontakt mit anderen Gruppen angewiesen ist, andererseits aber auch Spannungen zwischen den Spielgruppen, welche sich wiederum in verschiedenen Entscheidungen und Verhaltensweisen widerspiegeln. Dadurch eröffnet das WHS Spielräume, in denen unterschiedliche Interessen, Konflikte und Problembewertungen zutage treten können. Durch die komplexe Simultanität und Sequentialität der gleichzeitig agierenden Akteure und die dabei entstehenden Neben- und Rückkopplungseffekte werden die Spielenden im WHS mit Herausforderungen auf der Ebene des Sozialverhaltens konfrontiert, z.B. in Form ungeklärter Gewichtungen von Handlungsintentionen, -entscheidungen und -zielen anderer Spieler sowie daraus entstehender ethischer Unsicherheiten. Die Spieler sind stetig gefordert sich für Spielstrategien zu entscheiden, diese auszuführen bzw. auf ihnen entgegengebrachte, teilweise gegensätzliche Interessen und Spielstrategien zu reagieren. Dabei kann die konzeptionelle Rahmung des Spiels Einfluss auf die gewählten Verhaltensweisen haben. Die Spielregeln fungieren einerseits als Orientierungshilfe zur Einordnung der im WHS gezeigten Urteile und Verhaltensweise, andererseits reichen die Spielregeln nicht aus, um die Bandbreite möglicher sozialer Interaktionen und ökonomischer Entscheidungen exakt zu regulieren, sodass ethische Grauzonen entstehen, die von den Spielenden ausgedeutet werden müssen. Die Regelsetzung markiert somit die Spannung zwischen Determination und Freiheit (vgl. Breun, 2007). Dadurch kommt es im Spielverlauf zwischen den Spielenden immer wieder direkt und indirekt zu Verhandlungen in Bezug auf das richtige Urteilen und Verhalten im Rahmen des Spiels. Einerseits können bspw. Allianzen gebildet, und Handelsbündnisse geschlossen werden oder es kann Entwicklungshilfe geleistet werden; andererseits kann es aber auch zur Kartellbildung, zur Einführung von Zöllen und Quoten, zu Kolonialisierungsversuchen oder zur Inkraftsetzung von Handelsembargos kommen, aber auch Industriespionage und Produktpiraterie oder Diebstahl sind möglich. Welche dieser Möglichkeiten in Anspruch genommen werden, ist den Spielgruppen selbst überlassen, wobei die Wahl der Strategien Ergebnis individueller und kollektiver, d.h. gruppeninterner, oft spontaner Entscheidungen sind. Dabei herrscht Unsicherheit darüber, welche Spielstrategien bzw. damit verbundene Verhaltensweisen als adäquat, fair oder gerecht eingeordnet werden können und wie mit Verhaltensweisen umgegangen werden kann, die sich als sozial unverträglich beschreiben lassen (z.B. Diebstahl begehen, Versprechen brechen, Machtpositionen ausnutzen, etc.). In der Konsequenz werden die Schülerinnen und Schüler implizit stetig dazu angehalten, ethisch zu urteilen und sich mit ihren eigenen Werthaltungen sowie denen anderer Spieler(gruppen) auseinanderzusetzen. Dass hierbei emotionale Spannungen entstehen, ist schnell ersichtlich, insbesondere wenn noch einmal in Erinnerung gerufen wird, dass Verhaltensweisen, die aus ökonomischer oder spielstrategischer Hinsicht als sinnvoll oder richtig gelten können, nicht unbedingt auch in ethischer Hinsicht als richtig oder wertvoll betrachtet werden müssen.

Der Spielmechanismus des WHS ermöglicht grundsätzlich Selbststeuerung (z.B. Auswahl von Spielstrategien bei Aushandlung vorhandener Grauzonen in Bezug auf Spielregeln), Kooperation (im Sinne dementsprechender Spielstrategien, die auf eine Zusammenarbeit mit anderen Spielgruppen abzielen) und Vielperspektivität (in Form faktischer wie auch ethischer Betrachtungen von simultanen und sequentiellen Urteils- und Verhaltensweisen einer Vielzahl von Akteuren. Darüber hinaus wird während des Spiels die Teilhabe an individuellen und kollektiven (demokratischen) Abstimmungs- und Reflexionsprozessen von Handlungslinien gewährleistet.

In der Metareflexionsphase soll den Lernenden die Chance gegeben werden, Unterscheidungen in ethischen Fragen zu machen, indem die im WHS gezeigten Verhaltensweisen sowie die zugrundeliegenden Urteile noch einmal aufgegriffen, ethisch reflektiert und unter Angabe von Bewertungskriterien und -maßstäben begründet werden. Lernende können somit für ethische Fragen sensibilisiert werden und mögliche Positionen in Bezug auf diese kennenlernen. Die Lehrkraft nimmt hier die Rolle eines unterstützenden Moderators ein, um unter den Lernenden Diskursivität auf Augenhöhe zu ermöglichen. Dies bildet die Grundlage dafür, dass den Spielenden ermöglicht wird, an Konsensbildung mitzuwirken (z.B. im Hinblick darauf, welche Urteils- und Verhaltensweisen im Rahmen der Metareflexion als (un-)fair, (un-)gerecht, (in-)adäquat eingeordnet werden können und was dementsprechend in positiven Sinne erstrebenswert ist.

Ausweitung: Überblick zu didaktischen Forderungen im Sinne einer demokratischen Bildung durch Spiele im (Geographie-)Unterricht

Text & didaktisches Arrangement: Jan Hofmann (2022)

Spielmaterial: Christian Aid

Bild: Image by jemastock on Freepik

Literatur:

Applis, S., Benthaus, B., Bruns-Junker, A., Engel, J., Fögele, J., Gessner, S., Henn, F. M., Hofmann, J. Loerwald, D., Mehren, R., Meixner, M. & Müller S. (2019). Das Welthandelsspiel aus je einer Perspektive geographischer, ethischer, philosophischer, ökonomischer, politischer, sozial-/gesellschaftswissenschaftlicher und erziehungswissenschaftlicher Bildung. Zeitschrift für Geographiedidaktik (ZGD), Journal of Geography Education, Vol. 47(4), 117–144

Breun, R. (2007). Die Moral im Spiel und das Spiel in der Moral. Ethik und Unterricht. Zeitschrift für die Fächergruppe Ethik/Werte und Normen/LER/Praktische Philosophie, Ausgabe 3/07: Spielend leben, 4-9.

Christian Aid (o.J.). The trading game. Aufgerufen am 01. März 2018 unter https://www.christianaid.org.uk/schools/trading-game.

Hofmann, J., Applis, S. & Mehren, R. (2019). Glokalisierte Lebenswelten – Ethisches Urteilen als Pro- und Antikooperative Argumentations- und Verhaltensweisen im Geographieunterricht. Exemplarisch rekonstruiert an den drei Methoden Mystery, Dilemmadiskussion und Welthandelsspiel. Zeitschrift für Geographiedidaktik (ZGD) 2019, 47(4), 145–171

Hofmann, J. (2018). Zur Eignung spielbasierter Unterrichtssettings für ethisches Urteilen im Geographieunterricht. Ein konzeptioneller Vergleich des Welthandelsspiels mit dem iterierten Gefangenendilemma. Zeitschrift für Geographiedidaktik ZGD 4 | 18, S. 33 – 63

Kuttner, A. (2015). Ökonomisches Denken und Ethisches Handeln. Ideengeschicht-liche Aporien der Wirtschaftsethik. Wiesbaden: Springer VS.

Meyer, H. (142011). Unterrichtsmethoden II. Praxisband. Berlin: Cornelsen.