„Die Sätze wurden übel zugerichtet“
„Was macht ein Ethik-Professor aus Oxford beim Weltklimarat? Er staunt über die Abläufe, empört sich darüber, wie die Staatenvertreter die Zusammenfassung des IPCC-Reports für politische Entscheidungsträger verstümmeln, und freut sich, dass die Erwähnung ethischer Prinzipien der Zensur nicht vollends zum Opfer fällt. Ein Augenzeugenbericht über die Mitarbeit am Fünften Sachstandsbericht des IPCC.
Der IPCC erkennt an, dass der Klimawandel ein moralisches Problem ist. Oder um dessen vorsichtige Sprache zu verwenden: Klimawandel „wirft ethische Fragen auf“. Deshalb waren unter den Autoren des kürzlich erschienenen Fünften Sachstandsberichts des IPCC auch zwei Philosophen. […]“ (John Broome, Ethik-Professor an der Universität Oxford, Autor eines Standardwerks über moralische Fragen des Klimawandels)
Unterrichtliche Verwendung
Der Text von John Broome gibt einen spannenden Einblick in die Spannungen, die den Umgang mit Fragen des Klimawandels und den daraus zu ziehenden Konsequenzen auf staatlicher Ebene rahmen. John Broome ist Experte für ethische Fragen des Klimawandels (Überblick in deutscher Sprache zu den zur Debatte stehenden Gerechtigkeitsfragen bei Roser & Seidel: https://doinggeoandethics.com/2020/08/24/buchempfehlung-ethik-des-klimawandels/; Unterrichtsentwurf: https://doinggeoandethics.com/2020/08/28/fallanalyse-ethische-fragen-des-klimaschutzes/). Er nimmt als einer von zwei Philosophen Teil an einer internationalen Expert*innenkommission von Wissenschaftler*innen – in seinem Text gibt er Einblick in deren Arbeit und die Art und Weise, wie Regierungsvertreter*innen von Staaten versuchen Einfluss auf diese Arbeit zu nehmen.
Die ganze Idee dieser Genehmigungssitzung ist außergewöhnlich. Jeder einzelne Satz der SPM muss von den Regierungsvertretern entweder genehmigt oder abgelehnt werden. In dem riesigen Plenarsaal wird der Entwurf Satz für Satz auf eine Leinwand projiziert. Kommt ein Satz an die Reihe, fragt der Vorsitzende die Delegierten nach Kommentaren und Änderungsvorschlägen. Die Regierungsvertreter schlagen Änderungen vor, und die Autoren prüfen dann, ob deren Formulierung mit dem zugrunde liegenden ausführlichen Bericht übereinstimmen.
John Broome (2014)
John Blooms Text kann in Ethik- und Geographieunterricht behandelt werden, ist aber auch geeignet für den Politik-, Wirtschaftsunterricht und auch für den Unterricht in naturwissenschaftlichen Fächern, weil er die Wirkungen von wissenschaftlicher Expertise auf Zukunftsentscheidungen in der Politik behandelt. Die Gestaltung als Erfahrungsbericht mit erzählerisch dichten Passagen macht ihn gut zugänglich für Schüler*innen ab der 10. Jahrgangsstufe und auch für Lehrrkäfte bietet er wichtige Innensichten an.
Das größte Drama entfaltete sich in der letzten Nacht, als es um die Streichung einiger Grafiken ging. Der Entwurf der SPM, der den Delegierten vorgestellt wurde, enthielt Zahlen, die die Treibhausgasemissionen von Staaten nach „Einkommensgruppen“ klassifizierte. Die Zahlen zeigten, dass in den vergangenen zehn Jahren die Emissionen bei Ländern mit Nationaleinkommen im oberen mittleren Bereich stark gestiegen waren. Es ist offensichtlich, dass dies eine für politische Entscheidungsträger wichtige Information darstellt. Denn sie hilft zu erklären, warum trotz aller Sorge um den Klimawandel die Emissionen in letzter Zeit immer schneller zugenommen haben. Dennoch bestand eine Länderkoalition unter Führung von Saudi-Arabien darauf, alle Grafiken zu streichen, in denen Länder nach den erwähnten Einkommensgruppen eingeteilt wurden. Andere Länder widersprachen heftig, konnten aber nichts ausrichten, weil für die gesamte SPM ein Konsens erforderlich ist.
John Broome (2014)
Der Text wirft auch Fragen nach Verantwortung auf Seiten der beteiligten Wissenschaftler*innen auf für den gesamten Arbeitsprozess, hinsichtlich der Reichweite ihrer Expertise und hinsichtlich der Frage, wie gerecht generell der gesamte Verhandlungsprozess ist. Interessant wäre es angesichts eines gewissen Fatalismus, den der Text ausstrahlt, im Unterricht auch Aktionen von Klimaaktivist*innen zu behandeln, die Verhandlungen vor dem Hintergrund der bekannten Erfahrungen mit der Reichweite politischer Prozesse generell und grundsätzlich in Frage stellen.
Hätten wir Autoren die Zensur verhindern können? Möglicherweise. Der IPCC ist auf unsere lange, harte, ehrenamtlich erbrachte Arbeit angewiesen, und er zieht einen Teil seiner Autorität aus der Nutzung unserer Namen als Autoren. Hätten wir Wissenschaftler gemeinsam gedroht, unsere Namen zurückzuziehen, hätten wir womöglich etwas bewirken können. Aber um 4.30 Uhr in der Früh, mit Autoren, die im Konferenzraum verstreut waren und zum Teil auch nicht mehr ganz wach, war eine Widerstandsfront nicht zu organisieren.
John Broome (2014)
Text: Stefan Applis (2022) unter Bezug auf einen Gastbeitrag von John Broome auf Klimareporter (Übersetzung: Sandra Kirchner und Toralf Staud)