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In ihrem Beitrag „Lerntypen – Warum es sie nicht gibt und sie sich trotzdem halten“ legen die Psychologen Martin Daumiller und Benedikt Wisniewski dar, weshalb die subjekte Vorstellung von Lehrkräften und Pädagog*innen, dass es sogenannte Lerntypen gebe ein so stark verbreitetes Konzept sei, obgleich es wissenschaftlich nicht haltbar ist.

Wissenschaftlich betrachtet ist nichts dran an den Lerntypen. Es handelt sich um einen in unserer Gesellschaft weit verbreiteten Mythos. Die wissenschaftlichen Fakten und die zahlreichen Studien zu diesem Thema zeigen klar, dass es so etwas wie „Lerntypen“ nicht gibt und eine Ausrichtung von Lernumgebungen basierend auf vermeintlichen „Lerntypen“ keine förderlichen Effekte auf das Lernen hat (Aslaksen & Lorås, 2018; Pashler et al., 2008). Wieso hält sich der Mythos dennoch so hartnäckig und was können wir dagegen tun? Zur Beantwortung dieser Fragen erklären wir zunächst, was mit „Lerntypen“ gemeint ist, was die wissenschaftlichen Befunde dazu sagen und weshalb „Lerntypen“ auch bereits theoretisch betrachtet keinen Sinn ergeben.
Daumiller & Wisniewski (2022). Lerntypen – Warum es sie nicht gibt und sie sich trotzdem halten. In-Mind.
Was ist mit dem Konzept der Lerntypen gemeint?
Hier bei legen Daumiller und Wisniewski zunächst dar, worum es sich bei dem theoretischen Konstrukt der sogenannten Lerntypen von Frederik Vester (1975) handelt: „Die Annahme des Konzepts der Lerntypen ist dabei, dass die individuellen Präferenzen der Lernenden für bestimmte Sinneskanäle unabhängig von ihren kognitiven Fähigkeiten und unabhängig von den Lerninhalten sind und bedeutsame Implikationen für die Gestaltung von Lernprozessen haben. Daraus folgt also, dass Lehrpersonen für einen hochwertigen Unterricht unterschiedliche Unterrichtsmaterialien erstellen sollten – wobei es hier nicht um eine Passung zum Thema, dem Vorwissen oder der Motivationen der Schüler:innen geht, sondern darum, den unterschiedlichen „Lerntypen“ der Schüler:innen gerecht zu werden.“ (Daumiller & Wisniewski 2022)
Was sagt die Forschung: Gibt es individuelle „Lerntypen“? Bringt die Berücksichtigung individueller „Lerntypen“ etwas?
Laut den von Daumiller & Wisniewski (2022) dargelegten Studienergebnissen ist das Resultat eindeutig:
- Lernpräferenzen sind vom jeweiligen Lerngegenstand abhängig und mithin abhängig von der Persönlichkeit der Schüler*innen und deren Interessen.
- Ein Ausrichten der Lernumgebung nach den individuellen Präferenzen der Lernenden bietet keine Vorteile.
Gleichwohl betonen Daumiller & Wisniewski, dass es sinnvoll sei, „die Frage zu stellen, wie Lernumgebungen so gestaltet werden können, dass sie einzelnen Lernenden möglichst gut gerecht werden.“ (a.a.O.) Hierbei spielen aber wohl v.a. Wünsche von Lehrkräfte nach didaktischer Selbst-Orientierung und sicherer Kommunikation gegenüber Eltern eine zentrale Rolle: „Normalerweise können, wie im Kontext Schule, die Lernvoraussetzungen jeder oder jedes einzelnen Lernenden nicht berücksichtigt werden. Aus didaktischer Sicht müssen Mittelwege zwischen einer Instruktion, die für alle gleich ist, und einer vollständigen Individualisierung gefunden werden. Das Lerntypenkonzept bietet hierbei eine scheinbar (!) einfache und gut handhabbare Einteilung, mit der Lehrpersonen den Eindruck haben, unterschiedlichen Lernvoraussetzungen gerecht zu werden.“ (a.a.O.).
Der Beitrag von Daumiller & Wiesniewski (2022) gibt zunächt einen guten Überblick zu den zentralen Thesen des Konstruktes der individuellen „Lerntypen“ nach Fester (1975). Die entsprechenden Studien, die belegen, dass das empirisch nicht verifizierbare Konzept eher Resultat eines pädagogischen Bias sei, sind zitiert und können im Original nachgelesen werden. Weiterhin werden gut verständlich zentrale Überlegungen zum Lehren und Lernen dargelegt, die der Überprüfung der je eigenen Unterrichtsstrategien dienlich sein können: So kann man sich mit Blick auf die eigenen unterrichtlichen Praktiken Gedanken machen zu der Frage, weshalb man eigentlich aus welchen Gründen wie vorgeht und so etablierte Praktiken des Lehrens und angenommenen Lernens auf Seite der Schüler*innen überprüfen.
Text: Stefan Applis (2022)
Bilder: Daumiller & Wisniewski 2022
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