Transformatives Lernen als individueller Lernprozess

Die Grundgedanken des individuellen, transformativen Lernens wurden vor allem durch den amerikanischen Theoretiker MEZIROW geprägt, der betont, dass bei dieser Form des Lernens die Veränderung individueller Bedeutungsperspektiven (im Original: meaning perspectives) im Vordergrund steht. Individuelle Bedeutungsperspektiven können als persönliche Bezugsrahmen bezeichnet werden, mit denen der Mensch neue Erfahrungen oder Wissensinhalte interpretiert und bewertet. Dieser persönliche Bezugsrahmen stellt dabei ein Modell aus persönlichen Erwartungen, Erfahrungen und Überzeugungen dar, das der Mensch im Verlauf seines Lebens aufgebaut hat und für die Bewertung bzw. Einordnung neuer Erfahrungen und Erkenntnisse heranzieht. Das bedeutet gleichermaßen, dass der Mensch die Wirklichkeit auf der Grundlage seiner individuellen Bedeutungsperspektiven und damit auch auf der Grundlage seines persönlichen Bezugsrahmens interpretiert, sein Handeln oder Nicht-Handeln sowie letzten Endes auch seine Identität daran ausrichtet und gestaltet.

Das transformative Lernen beschreibt nun den Veränderungsprozess der individuellen Bedeutungsperspektiven, der auf krisenhaften Erfahrungen und einer damit einhergehenden Verunsicherung des persönlichen Bezugsrahmens beruht. Der Veränderungsprozess beginnt damit, dass das Individuum durch die krisenhafte Erfahrung in ein Dilemma gerät, das sich darin äußert, dass der persönliche Bezugsrahmen nicht zu der neuen Erfahrung oder Erkenntnis passt. Um die krisenhafte Erfahrung aber einordnen und bewerten zu können, folgt daraufhin eine Phase der kritischen Reflexion, bei der die indi-viduellen Bedeutungsperspektiven überdacht, angepasst und schließlich auch für weitere Erfahrungen und Erkenntnisse übernommen werden (vgl. MEZIROW, 1997, S. 35 und SINGER-BRODOWKSI, 2016, S. 15).

Diese krisenhaften Erfahrungen, die in sich in einem persönlichen Dilemma oder Irritationsmoment äußern, können zufällig durch neue Begegnungen, Gespräche oder Erfahrungen entstehen. Sie können aber auch bewusst, bspw. im unterrichtlichen Kontext, durch konkrete Fragen hervorgerufen werden. Eine mögliche Frage, die im Rahmen einer transformativ ausgerichteten Bildungspraxis einen Prozess des Bewusstmachens und des Hinterfragens der eigenen Werte- und Handlungsmuster auslösen kann, ist folgende:

„Wie konnte es passieren, dass die Menschheit den Planeten – den einzigen, den sie zur Verfügung hat – in der Lebensspanne zweier Generationen an den Rand des Kollapses gebracht hat?“.

vgl. GÖPEL, 2020, S. 17

Diese beispielhafte Frage verdeutlicht, dass sich Lernende in einem ersten Schritt bewusst machen müssen, wieso und wodurch die Menschheit den Planeten gefährdet und inwiefern die Lernenden jeweils selbst daran beteiligt sind. Erst daran kann sich in einem zweiten Schritt die Phase der Reflexion anschließen, bei der die Lernenden ihre eigenen Bewertungs- und Handlungsmuster hinterfragen, überdenken und ggf. anpassen. Insgesamt kann zusammenfassend festgehalten werden, dass transformative Lernprozesse in besonderer Weise die Förderung und die Stärkung der Reflexionsfähigkeit der Lernenden intendieren (vgl. HEITFELD, REIF, 2020, S. 17 und SINGER-BRODOWKSI, 2016, S. 15).

[…] [Dies] bedeutet […], dass Bildung die Menschen durch eine aktive Auseinandersetzung mit krisenhaften Erfahrungen und den sich daran anschließenden Phasen aus Bewusstwerdung und Reflexion der eigenen Werte und Handlungsmuster bestärken und befähigen kann, sich wirkungsvoll und nachhaltig für ihre persönlichen Werte und Visionen einzusetzen. Transformative Lernprozesse, die auf individueller Ebene stattfinden, gelten dementsprechend als wichtige Voraussetzung für transformatives Engagement. Ob der Lernprozess allerdings auch zu einer gesellschaftlichen, nachhaltig ausgerichteten Transformation beiträgt, kann nicht beantwortet werden. Denn angenommen, ein Irritationsmoment führt dazu, die eigenen Werte und Verhaltensweise zu überdenken, so muss dies nicht zwangsläufig bedeuten, dass sich daran auch eine Veränderung oder Anpassung der persönlichen Handlungsmuster anschließt. Eine mögliche Diskrepanz zwischen Bewusstsein und Handeln kann insgesamt zwar nicht ausgeschlossen werden; sie kann jedoch durch eine Auseinandersetzung mit konkreten Handlungsoptionen, die gesellschaftlich transformatives Potential aufweisen, verringert werden und die Lernenden sogar dazu motivieren, eigene, nachhaltige Handlungsideen zu entwickeln und auszuprobieren.

Je mehr Phasen des Entdeckens, Entwickelns, Ausprobierens und Erfahrens im Unterricht integriert sind, desto größer ist die Wahrscheinlichkeit, dass sich die Lernenden auch außerhalb des Unterrichts mit der Thematik befassen. Dadurch kann sich aus dem zunächst persönlich ausgerichteten Transformationsprozess auch ein weitreichender Prozess mit gesellschaftlich transformativer Wirkung entfalten (vgl. HEITFELD, REIF, 2020, S. 18).

Transformatives Lernen als kollektiver Lernprozess

Auch die Perspektive des kollektiven, transformativen Lernens beschreibt eine Form des Lernens, bei der zunächst Reflexionsprozesse der eigenen Gedanken, Werte und Haltungen im Vordergrund stehen. Durch das aktive Umdenken und Neuausrichten der Gedanken sollen in einem späteren Schritt gesellschaftliche Veränderungs- und Trans- formationsprozesse angestrebt werden, die im Wesentlichen das Ziel transformativer Lernprozesse darstellen. Allerdings geht die kollektive Ausrichtung des transformativen Lernens hauptsächlich auf südamerikanische und kanadische Ansätze zurück, in denen besonders die Ideologiekritik, geprägt durch ungleiche Machtverhältnisse, Ausbeutung und Unter- drückung, thematisiert wird. Das Adjektiv kollektiv beschreibt vor diesem Hintergrund das Ziel einer gemeinsamen, gesellschaftlichen und politischen Emanzipation der Lernenden. Ein Hauptvertreter dieser Richtung, PAULO FREIRE, beschreibt in seinem Werk „Pädagogik der Unterdrückten“ aus dem Jahr 1971, dass Lernende durch ein Wechselspiel von Reflexion, dialogischem Austausch und gemeinsamen Veränderungsaktionen in der (Lern-) Gruppe kontinuierliche Bewusstwerdungsprozesse der vorherrschenden, gesellschaftli-chen Strukturen entwickeln. Diese Prozesse führen dazu, dass sich Lernende über die Wirkung der vorherrschenden Strukturen und gesellschaftlichen Missstände, über ihre eigene Rolle in der Gesellschaft und ihren Einfluss gemeinsamer Veränderungsaktionen bewusstwerden.

Bei der Bewusstwerdung kommt dementsprechend es zu einem Wechselspiel aus Aktion und Reflexion, das laut FREIRE im Zentrum des transformativen Lernens steht. Das Wechselspiel äußert sich darin, dass sich die Lernenden aktiv mit den gesellschaftlichen Strukturen auseinandersetzen, sie die vorherrschenden Machtverhältnisse reflektieren und die Veränderbarkeit gemeinsam ausgerichteter Aktionen in der Gruppe deuten und nachvollziehen. In der unterrichtlichen Praxis ist es wichtig, dass ein offener, kontinuierlicher Raum des Austauschs und des Vertrauens zwischen Lehrenden und Lernenden geschaffen wird, sodass individuelle und kollektive Transformationsprozesse ermöglicht werden können und im Anschluss daran auch Emanzipationsprozesse zugelassen werden (vgl. FREIRE, 1971, S. 67ff und SINGER-BRODOWSKI, 2016, S. 15f).

Auch wenn der Ansatz im 21. Jahrhundert in der westlichen Welt auf den ersten Blick weder zeit- noch ortsgemäß passend erscheinen mag, kann er in die heutige Zeit und auf die aktuellen Herausforderungen übertragen werden. So thematisiert O´SULLIVAN in seinem Werk „The Project and Vision of Transformative Education“ aus dem Jahr 2002 bspw., dass die globale, politische Bewusstwerdung über die ökologischen und sozialen Krisen eine wesentliche Notwendigkeit darstellt, um eine kollektive Einsicht über die vorherrschenden Herausforderungen und ihre Veränderungsmöglichkeiten zu erlangen. Denn die Entwicklung neuer Visionen, Innovationen und alternativer Konzepte und damit eine Veränderung der Gesellschaft im Sinne einer nachhaltig ausgerichteten Transformation können nur dann erfolgen, wenn die aktuellen (und bereits vergangenen) gesellschaftlichen Lebensweisen sowie die politisch vorherrschenden Machtverhältnisse in der Gesellschaft kritisch betrachtet und hinterfragt werden. Dies erfordert aber auch eine Reflexion der eigenen Lebensweise, der persönlich verankerten Werte und Normen, der Veränderungsmöglichkeiten des eigenen Handelns und der Rolle in der Gesellschaft. Da die Fähigkeit zur Selbstreflexion vorausgesetzt werden kann, werden in der unterrichtlichen Praxis insbesondere Lehrmethoden empfohlen, die einen selbstorganisierten Prozess der Auseinandersetzung mit Wissen, Werten und Emotionen fördern (vgl. SINGER-BRODOWKSI, 2016, S. 15f).

Abschließend […] kann hervorgehoben werden, dass der kollektive, transformative Lernprozess, übertragen auf die aktuelle Lebenswelt und somit größtenteils losgelöst von seiner ursprünglichen Ausrichtung, hauptsächlich auf die persönliche Veränderung der Lernenden abzielt. Ausgehend von dem Ursprung dieser Perspektive, stehen hier dennoch besonders die ideologiekritische Reflexion über gesellschaftliche Strukturen, Machtverhältnisse sowie die Beziehung der Lernenden zu ihrer natürlichen und sozialen Umwelt im Vordergrund. Durch diesen speziellen Fokus auf Ideologien und Machtverhältnisse können kollektive, nachhaltige Gemeinschaftsaktionen, bspw. als Protest- oder Gegenbewegungen, in der Lerngruppe erleichtert angestrebt werden (vgl. SINGER-BRODOWKSI, 2016 S. 15f).

Text: Anja Farina Krechel (2022)

Titelbild: Scrabble photo created by freepik – www.freepik.com

Bild: 10 Phasen nach Mezirow via researchgate

Literatur:

FREIRE, P. (1971): Pädagogik der Unterdrückten. Bildung als Praxis der Freiheit. Stuttgart

GÖPEL, M. (2020): Unsere Welt neu denken. Eine Einladung. Berlin

HEITFELD, M. u. A. REIF (2020): Transformation gestalten lernen. Mit Bildung und transformativem Engagement gesellschaftliche Strukturen verändern. Bonn. Berlin

MEZIROW, J. (1997): Transformative Erwachsenenbildung. Baltmannsweiler.

O’SULLIVAN, E. (2002). The Project and Vision of Transformative Education: Integral Trans-formative Learning. In: E. O’SULLIVAN, A. MORRELL u. A. O’CONNOR (Hrsg.) (2002): Expanding the Boundaries of Transformative Learning. Essays on Theory and Praxis, New York. Palgrave, S. 1 – 10

SINGER-BRODOWSKI, M. (2016): Transformative Bildung durch transformatives Lernen. Zur Notwendigkeit der erziehungswissenschaftlichen Fundierung einer neuen Idee. In: Zeitschrift für internationale Bildungsforschung und Entwicklungspädagogik 1/2016, S. 13 – 17