Utopische Bildung I
Mit dem vor dem Jahrtausendwechsel ausgerufenem „Ende der Geschichte“ bzw. „Ende der großen Erzählungen“ schien das utopische Denken nicht mehr zeitgemäß. In unserer Alltagssprache steht der Begriff utopisch für eine starke Realitätsferne. Dies mögen Gründe dafür sein, dass das Konzept der Utopie in der Geographiedidaktik eine allenfalls untergeordnete Rolle spielt. Zu Unrecht!
Begriffe: Utopien – Dystopien – Heterotopien
Der Begriff Utopie ist ein Neologismus von Thomas Morus, der mit seinem Werk „Utopia“ aus dem Jahre 1517 eine wesentliche Referenzfigur utopischer Konzepte ist. Während der letztere Wortbestandteil die klar räumliche Dimension des Begriffs markiert (topos, gr. Ort), ist die erste Silbe doppeldeutig. Utopien können als Nicht-Orte (ou, gr. nicht) und gleichermaßen als gute Orte (eu, gr. gut) gedacht werden. Sie stellen räumliche Entwürfe von wünschenswert empfundenen zukünftigen Staats-, Gesellschaft- und Lebensformen dar. In dieser Weise zeichnet sich utopisches Denken durch eine Extrapolation von zeitgenössisch wahrgenommenen Problemen in die Zukunft aus, die das Entworfene im Unterschied zum Status quo positiv fassen – im Falle von Anti-Utopien bzw. Dystopien (dys, gr. übel) negativ. Utopien und Dystopien implizieren eine Kritik an aktuellen Verhältnissen und gleichermaßen normative Verbesserungsvorschläge bzw. Warnungen.
Der Begriff des Utopischen weist etymologisch auf seine (Noch)Nichtrealiserbarkeit hin. Die tatsächliche Realisation lässt sich in Anlehnung an einen Begriff des französischen Philosophen Michel Foucault als Heterotopie (hetero, gr. anders) kennzeichnen, als tatsächlich realisierte Utopie. Utopisches bzw. heterotopisches Denken ist nun keineswegs auf die Literatur beschränkt, sondern kann Bestandteil klassisch geographische Felder sein – von Konzepten und Projekten der Stadtplanung hin zu Gemeinschaften wie etwa israelische Kibbuzim.
Anschlussstellen an bildungswissenschaftliche und geographiedidaktische Konzepte
Gerade weil Utopien immer auf Raum und Ort verweisen, stellen sie eine Einladung für die Geographie dar, die wie kein anders Fach eine erhöhte Raumexpertise aufweist und Utopien verstärkt in Bezug auf Mensch-Umwelt-Beziehungen betrachten kann. Dabei schärft die explizit normative Ausrichtung des Utopischen die wichtige ethische Orientierung des Geographieunterrichts, das „doinggeoandethics“.
Die Zukunftsorientierung des utopischen Denkens erlaubt einen Anschluss an aktuell vieldiskutierte Konzepte in den Bildungswissenschaften und in der Geographiedidaktik. Utopisches Denken kann Teil einer transformativen Bildung sein, deren Ziel es ist, Verständnis für Handlungsmöglichkeiten und Lösungsansätze aktueller sozial-ökologischer Transformationen im Anthropozän zu schaffen. In diesem Zusammenhang kann die kritische Auseinandersetzung mit und das Entwerfen von Utopien die sogenannte Futures Literacy befördern, also die generelle Fähigkeit, die Rolle von Zukunft in unserem alltäglichen Wahrnehmen und Handeln stärker zu integrieren und auch lösungsorientiert einzusetzen.
Unterrichtspraktische Möglichkeiten
Der Geographieunterricht kann in verschiedenster Weise zur utopischen Bildung beitragen. Unterscheiden lassen sich eine kritische Analyse von Utopien (analog: Dystopien) und das Produzieren eigener Zukunftsvisionen.
Die kritische Analyse kann – je nach Sequenzthema und Unterrichtsziel – verschiedene Gegenstände umfassen: klassische Utopien (z. B. Thomas Morus´ „Utopia“, Ernest Callenbachs „Ecotopia“), Gemeinschaften (z. B. Kibuzzim in Israel, Auroville in Indien) oder raumplanerische Projekte (z. B. „The Line“ in Saudi-Arabien, „BiodiverCity“ in Malaysia). Im Vordergrund der Beschäftigung stehen dabei einerseits klassisch-geographische Fragen (z. B. nach Ernährungsproduktion, Verkehr, sozialräumlicher Strukturierung), andererseits ethische Diskussionen der dargestellten Vision von Raum und Gesellschaft (z. B. Inwiefern kann ein solches Leben als nachhaltig charakterisiert werden? Inwiefern wäre ein solches Leben (nicht) wünschenswert? Was macht den dargestellten Ort zu einem Ort guten Lebens?).
Das selbstständige Erstellen von utopischen (auch heterotopischen und ggf. dystopischen) Entwürfen kann „im Großen“, z.B. in Form von Projekttagen, erfolgen, etwa im Rahmen von Zukunftswerkstätten. Es lässt sich aber auch „im Kleinen“ in den regulären Unterricht integrieren. Eine solche Möglichkeit wäre etwa die Szenario-Technik. Dabei extrapolieren die Schülerinnen und Schüler ausgehend von einem gegenwärtigen Sachverhalt oder Problem z.B. extreme (bestmögliche oder schlechtestmögliche) Zukunftsentwürfe und setzen diese so in einen Zusammenhang, welcher immer auch normativ reflektiert werden kann und sollte.
Einladung zum Austausch
Utopische Bildung umfasst zahlreiche Anwendungsmöglichkeiten im Geographieunterricht. Über Ihre Ideen, Vorschläge oder Berichte zur unterrichtspraktischen Umsetzung würde ich mich freuen! Schreiben Sie mir gern eine Mail oder nutzen Sie die Kommentarfunktion. backbe(at)gmx.net
Text: Christoph Baumann
Bild: Image by Yaroslav Danylchenko on Freepik
Verwendete/empfohlene Literatur
zur Geschichte der Utopie: Schölderle, T. (2017): Geschichte der Utopie. UTB.
zur Utopischen Bildung: Jahnke, H. (2023): Utopische Bildung. In: Nöthen, E. / Schreiber, V.: Handbuch Transformative Geographische Bildung. Springer Spektrum.
zur Transformatorischen Bildung: Singer-Brodowski, M. (2016): Transformative Bildung durch transformatives Lernen. Zur Notwendigkeit der erziehungswissenschaftlichen Fundierung einer neuen Idee. In: Zeitschrift für internationale Bildungsforschung und Entwicklungspädagogik 1/2016, S. 13 – 17. ; siehe auch das Handbuch aus vorhergehender Empfehlung
zum Anthropozän: Horn, E./ Bergthaller, H. (2019): Anthropozän zur Einführung. Junius.
zur Futures Literacy: Sippl, C. et al. (2023): Futures Literacy: Zukunft lernen und lehren. Studien Verlag.
zur Lösungsorientierten Didaktik: Hoffmann, T. (2018). Gerüstet für die Zukunft. Aufgaben des Geographieunterrichts. Praxis Geographie 1, S 4-9.
zum Konzept der Heterotopie: Foucault, M. (1992): Andere Räume. In: Barck, K. et al. (Hrsg.): Aisthesis. Wahrnehmung heute oder Perspektiven einer anderen Ästhetik. Reclam, S.34-46