Utopische Bildung II

Zukunftswerkstätten gehen auf den Publizisten und Träger des Alternativen Nobelpreises Robert Jungk (1913-1994) zurück. Auch inspiriert durch die Arbeit des Club of Rome (u.a. „Grenzen des Wachstums“ 1972) versuchte Jungk eine Methode zu entwickeln, die hilft, gesellschaftliche Probleme zu lösen und Zukunftsvisionen zu generieren.

Ziele und Grundkonzept

Die Methode ist durch zwei zentrale Ziele geprägt: Zum einen werden Zukunftswerkstätten als ein Instrument zur aktiven Gestaltung von Zukunft verstanden. Zum anderen sind sie im hohen Maße auf basisdemokratische Bürgerbeteiligung ausgerichtet.  Ein wichtiges Motto Jungks lautet daher: „Aus Betroffenen Beteiligte machen“. So sollen Schüler*innen an der Zukunft ihrer Schule ebenso mitwirken wie die Bewohner*innen eines Quartiers an dessen Entwicklung.

Auf der Grundlage von Jungks Konzeptionen entwickelten sich seit den 1980er Jahren verschiedene Formen und Einsatzbereiche von Zukunftswerkstätten. Ein Fokus liegt auf Bürgerinitiativen und Projekten der Bürgerbeteiligung in Gebietskörperschaften. Daneben wird die Methode in Verbänden, Unternehmen sowie in verschiedenen Bildungskontexten genutzt. Trotz teils abweichender Detailausrichtungen sind die unterschiedlichen Konzepte und Einsätze von einer grundsätzlichen Drei- bzw. Fünfteilung geprägt: Neben der Vor- und Nachbereitung umfassen diese die Kritik-, Utopie- und Verwirklichungsphase.

Ablauf und Durchführung

Je nach Rahmen dauern Zukunftswerkstätten in der Regel zwischen sechs Stunden und mehreren Tagen. Im schulischen Kontext eignen sie sich vor allem für Projekttage und können problemlos an zwei Vormittagen durchgeführt werden. Eine Aufteilung in einzelne Unterrichtsstunden kann das Involviertsein der Beteiligten etwas reduzieren, ist allerdings ebenfalls gut möglich.

Lehrer*innen sollten weniger als Lehrende, sondern vielmehr als Moderierende auftreten. Neben der verständlichen Vermittlung der grundsätzlichen Methode und der einzelnen Teilaufgaben sowie der Dokumentation der Ergebnisse geht es vor allem darum, kreative Prozesse anzuregen und darauf zu achten, dass sich möglichst alle Schüler*innen einbringen können. (vgl. Wolfgang Klafki: Kritisch-konstruktivistische Didaktik)

Vorbereitung

Zur Vorbereitung gehört einerseits die Bereitstellung des Materials (z.B. Flipcharts, Pinnwände und Kärtchen), andererseits die Festlegung des Themas. Um den partizipativen Charakter zu fördern, ist eine Themenfindung nah am Schüler*inneninteresse sinnvoll. Gerade für den Geographieunterricht bieten sich raumbezogene Themen wie (kind-/jugendgerechte) Entwicklung des Stadtquartiers oder der Kommune an.

1. Kritikphase

Nach der Begrüßung und Einführung samt Vorstellung des Ablaufes der Zukunftswerkstatt geht es darum, Kritik an den aktuellen Zuständen zu artikulieren. In Form eines Brainstormings formulieren die SuS Kritikpunkte und Herausforderungen auf Kärtchen am aktuellen Status quo (z.B. „Was missfällt mir an unserer Stadt?“). Ohne bereits in eine Diskussion zu gehen, werden im Folgenden die Einwände in aller Kürze vorgestellt und an eine Stellwand gepinnt. Die Lehrperson kann im Anschluss – in Dialog mit dem Plenum – ein Clustering der Kärtchen vornehmen. Danach erfolgen eine tiefere inhaltliche Besprechung und ein Austausch über die angesprochenen Missstände. Bei größeren Gruppen bietet sich an, dies in Teilgruppen zu vollziehen. Mit ausreichender Zeit ließe sich diese Phase durch kleinere Rollenspiele oder zeichnerische Arbeiten ergänzen, in denen die SuS ausgewählte Missstände szenisch bzw. visuell darzustellen versuchen. Im Anschluss kommt es zu einer Wertung der anfangs formulierten und danach diskutierten Kritikfelder in Form einer Bepunktung, wobei allen Teilnehmenden z.B. drei oder vier Einzelpunkte zur Verfügung stehen, welche auf die Kärtchen verteilt werden. Die am meisten bepunkteten Kritiken werden graphisch hervorgehoben und in der folgenden wieder Phase explizit aufgegriffen.

In manchen Konzeptionen wird vor die eigentliche Kritikphase noch eine Thematisierung positiver Aspekte des Status quo integriert (z.B. Brainstorming „Was gefällt mir an meiner Stadt“?)

2. Utopiephase

Das Ziel der zweiten Phase liegt darin, Szenarien zu entwickeln, wie die Zukunft in Bezug auf die Fragestellung idealerweise zu sein hat. Dabei geht es explizit noch nicht um konkrete Realisierungspläne, sondern vielmehr um utopische Entwürfe. Zunächst sollen die SuS dabei unterstützt werden, ihre Fantasie anzuregen. Dafür bieten sich kreative Aufgaben wie die Gestaltung eines Wortbildes zu einem zentralen Begriff des Themas (z.B. „Zukunftsstadt“) oder das Zeichnen gewünschter Zukunftsentwürfe (z.B. „Unsere Stadt in 10 Jahren“) an. Der Ausführung und Vorstellung dieser Aufgaben sollten ausreichend Raum gegeben werden.  Im Anschluss werden die am wichtigsten bewerteten Kritikpunkte der ersten Phase aufgegriffen und ins Positive umformuliert (z.B. „In unserer Stadt gibt es viel zu wenig Grünflächen.“, „In unserer Stadt gibt es ausreichend Grünflächen.“). In der sogenannten Ideenschmiede gehen die SuS in Kleingruppen zusammen und entwickeln zu den Zielen mehrere Lösungsideen, die im Anschluss im Plenum vorgestellt und diskutiert werden können (z.B. zum oben genannten Ziel: „Ein Teil der Parkplätze solle in Grünflächen umgestaltet werden.“, „Öffentliche Plätze sollten mehr Grünflächen umfassen.“). Die noch allgemein gehaltenen Lösungsideen bilden den Übergang zur Verwirklichungsphase.

3. Verwirklichungsphase

Die Ideen werden nun hinsichtlich ihrer konkreteren Umsetzbarkeit behandelt. In Kleingruppen entwickeln die SuS konkrete Handlungsoptionen. Eine Grundlage dafür ist die „W-Methode“, die Beantwortung der folgenden Fragen: Was? (Projektvorschlag, Titel); Warum? (Begründung); Wie? (einzelne Umsetzungsschritte); Wer? (Akteure, ggf. Beteiligte aus der Gruppe und Extern); Bis wann? (Projektzeitraum, ggf. aufteilbar nach Dringlichkeit); Mögliche Barrieren?  Davon ausgehend bildet die Entwicklung eines Aktionsplanes den vorläufigen Abschluss. Dabei werden zu den Einzelmaßnahmen die anstehenden Schritte benannt, Verantwortliche festgelegt und entsprechende Zeitangaben gemacht.

Anschluss und Nachbereitung

Jungk charakterisiert die aus der Zukunftswerkstatt hervorgehenden folgenden Handlungen als eine Form des „sozialen Experiments“ und des Ausprobierens. In einer zeitlich festgelegten Anschlussveranstaltung können Bemühungen und deren Hindernisse reflektiert und ggf. modifiziert werden.

Interview mit Hans Holzinger von der Robert-Jungk-Bibliothek für Zukunftsfragen Salzburg zu Zukunftswerkstätten

Potentiale, Herausforderungen und Variationen für den Unterricht

Zukunftswerkstätten stellen eine strukturierte Methode dar, Zukunft oder Zukünfte zu denken und auf deren Gestaltung einzuwirken. In dieser Weise tragen sie zur Förderung der Futures Literacy, also zur Fähigkeit bei, die Bedeutung von Zukunft in unserem alltäglichen Wahrnehmen und Handeln stärker zu integrieren. Im Kontext einer transformativen Bildung können SuS mittels Zukunftswerkstätten sensibilisiert und motiviert werden, Handlungsmöglichkeiten und Lösungsansätze aktueller sozial-ökologischer Herausforderungen zu entwerfen und zu erproben. Besonders gewinnbringend ist die dialektische Verknüpfung einer utopischen mit einer realitätsorientierten bzw. pragmatischen Dimension. Dabei werden Kompetenzen der Beurteilung/Bewertung (Was ist gut/schlecht?) mit den im Unterricht oft stiefmütterlich behandelten Kompetenzen des Handelns kombiniert und Möglichkeiten für Selbstwirksamkeitserfahrungen geschaffen.

Die Handlungsdimension stellt allerdings auch eine Herausforderung dar. Das Nichterreichen bestimmter Verwirklichungen – sei es aufgrund der dafür leistbaren Handlungen oder aufbringbaren Zeit, sei es aufgrund diverser externer Barrieren – kann zur Frustration führen. Umso wichtiger ist daher die Rolle der Moderierenden, die die SuS auf entsprechende Probleme und den Umgang damit vorbereiten sollten.

Zukunftswerkstätten lassen sich zu zahlreichen Themen, die in Geographie, aber auch in Ethik und anderen Fächern, behandelt werden, durchführen. Neben der klassischen Thematisierung des Nahbereiches (z.B. allgemeiner: Entwicklung der eigenen Stadt; z.B. konkreter: Umgang mit Müll in unserer Schule) ist es allerdings auch denkbar, über diesen hinauszugehen und  Themen wie z.B. „Wasserkonflikte in Südspanien“ oder „Soziale Segregation in US-amerikanischen Städten“ zu behandeln. Dabei verändert sich allerdings die Grundausrichtung. Im Mittelpunkt steht dann weniger Jungks Forderung, „Betroffene zu Beteiligten“ zu machen, sondern stärker das Eindenken in andere Lebenswirklichkeiten und deren (lokale) Problemlage. Für eine beurteilungs-, handlungs- und lösungsorientierte Vertiefung entsprechender Unterrichtsthemen kann eine (Variation der) Zukunftswerkstatt dennoch sehr fruchtbar sein!

Text: Christoph Baumann (2023)

Bild: Bild von vectorjuice auf Freepik

verwendete/empfohlene Literatur

Burow, O.-A. / Neumann-Schönwetter, M. (Hrsg.) (1997): Zukunftswerkstatt in Schule und Unterricht. Bergmann + Helbig.

Jungk, R. (1993): Trotzdem. Mein Leben für die Zukunft. Hanser.

Jungk, R. / Müllert, N. (1989): Zukunftswerkstätten. Mit Phantasie gegen Routine und Resignation. Heyne.

Schwendinger, C. (2012): Zukunftswerkstätten: Geschichte, Entwicklung, Wirkung. Reihe S:Z:D Arbeitspapiere der Robert-Jungk-Stiftung. JBZ-Verlag.

Stracke-Baumann, C. (2008): Nachhaltigkeit von Zukunftswerkstätten. Stiftung Mitarbeit.

Homepage der Robert-Jungk-Bibliothek für Zukunftsfragen in Salzburg