Philosophische Bildung vor dem Hintergrund eines ganzheitlichen Bildungsbegriffes in Abgrenzung von kognitionsorientierten Kompetenzansätzen
Der Philosophiedidaktiker Rene Torkler beschäftigt sich in seinem Buch „Philosophische Bildung und politische Urteilskraft“ (zum Blick ins Buch) mit der Rolle der Philosophie für die politische Bildung vor dem Hintergrund von Hanna Arendts politischer Philosophie. Dabei geht er davon aus, dass für eine politische Bildung ein Rückgriff auf eine „philosophischen Hintergrundtheorie“ (Torkler 2015, S. 13) notwendig ist. Generell fasst Torkler Bildung als einen umfassenden Prozess auf, der nicht durch das Festellen zusätzlich erworbenen Wissens verstanden werden kann. Das hat weitreichende Folgen für die Konzeption von Unterricht, da das Politische nicht als Lerninhalt verstanden werden kann, sondern als etwas Strukturelles in der Gestaltung von Bildungsprozessen gesehen werden muss.
Im Zentrum der Bildung steht nicht die Aufnahme von etwas, das wir zu unserem bisherigen Selbst gewissermaßen additiv hinzufügen. Die Abwendung vom Gewohnten impliziert vielmehr eine Veränderung, welche die Seele im Ganzen erfasst, diese verändert und letztlich nicht mehr reversibel ist. (…) Bildungsprozesse gehen am Selbst nicht derart spurlos vorbei; Bildung wird nicht in dem Sinne erworben, dass sie dem Einzelnen als eine Art zusätzlicher Option verfügbar würde. Der sich Bildende wird im Bildungsprozess ein Anderer – und wird dabei zugleich mehr er selbst, als er es vorher gewesen war. (…) Ausgehend von dieser Überlegung lässt sich nun auch einsehen, wieso es sich häufig um ein Missverständnis handelt, wenn Bildungsprozesse als ein Erwerb von Kompetenzen beschrieben werden (…). Die Redeweise vom Kompetenzerwerb ist mindestens reduktionistisch, weil sie den beschriebenen Aspekt der Veränderung nicht reflektiert, sondern suggerieren kann, das sich bildende Selbst bliebe im Prinzip dasselbe und würde sich nur durch bestimmte Zusätze ergänzen, die sich wie ein äußerlicher Besitz erwerben lassen.
Torkler, R. (2015). Bildung zum Anderen. Prae|faktisch.de.
Drei Ansätze normativer Orientierung nach Rekus (1993)
Im Kapitel „Werte der politischen Bildung: Denken ohne Geländer“ beschreibt Torckler die wichtigsten Ansätze normativer Orientierung in Bezug auf die Werteerziehung, hier unterscheidet er mit Jürgen Rekus zwischen bildungstheoretischen, organisationstheoretischen und erziehungstheoretischen/handlungstheoretischen Ansätzen.
Als einen bildungstheoretischen Ansatz wird Klafkis „kritisch-konstruktive Didaktik“[1] bezeichnet, die materielle und formelle Bildungstheorie vereine. Hier wird nicht mehr nur von einer reinen Vermittlung von Bildungsinhalten gesprochen , sondern auch einem gleichzeitigen Erlernen von Methodik.
Bezogen auf bereits bestehende „Inhalte“ versucht der organisationstheoretische Ansatz Schüler:innen moralisches Handeln und Urteilen durch reale Probleme zu vermitteln. Dabei wird davon ausgegangen, dass „Demokratie nur aus der Praxis der Demokratie entsteht“[2].
Im Gegensatz dazu soll sich beim erziehungstheoretischen/ handlungstheoretischen Ansatz, moralisches Handeln der Schüler:innen nicht auf vermittelte Inhalte beziehen. Vielmehr sollen Lösungen einer Problemstellung durch die Schüler:innen eigenständig erarbeitet werden.
Nach Torkler seien allerdings alle Strömungen kritisch zu betrachten, sofern sie nur für sich stehen, da zum Beispiel rein bildungstheoretische Ansätze bei der Wertevermittlung dazu führen können, dass ein gewisser Konsens bei Werten einfach angenommen wird, wodurch diese womöglich unreflektiert übernommen werden. Organisationstheoretische Ansätze wiederum konzentrieren sich stark auf die persönlichen Urteile der Schüler:innen und sind möglicherweise als zu relativistisch zu bewerten. Handlungstheoretische Ansätze widerum beschränken sich dadurch, dass sie sich auf das Handeln eines Subjekts beziehen, häufig auf das Thema Gerechtigkeit und sind dementsprechend in ihrer ethischen Bandbreite begrenzt.
Die Vermittlung verschiedener Perspektiven gehört besonders deshalb zum Bildungsbegriff hinzu, weil Bildung ein Weltverhältnis konstituiert. Da es „die Welt“ jedoch kaum nur in einer Perspektive gibt, muss der Umgang mit Pluralität als ein grundlegendes Moment von Bildung überhaupt verstanden werden.
Torkler, R. (2015). Bildung zum Anderen. Prae|faktisch.de.
Weitere mögliche Untergliederungen gängiger Ansätze finden sich hier:
Kohlberg gehört gemäß Torklers/Rekus‘ Untergliederung zu den organisationstheoretischen respektive handlungstheoretischen Ansätzen
Die Grenzen von politischer Bildung als Werterziehung
Bereits bei Rousseau, führt Torkler aus, gehe die ethische Bildung der politischen Bildung voraus. „Die moralische Bildung gehört hier [bei Rousseaus Emile] offenbar als eine Art Vorstufe zur Entwicklung eines politischen Selbstverständnisses“ (Torkler 2015, S. 42). Solch ein Ansatz sei nach Torkler besonders problematisch. Vor allem insofern, als sich die Kultur, in der wir heute leben, von der vorheriger Kulturen unterscheide, wie der, in der Rousseau lebte; auch deswegen können nicht einfach angenommen werden, dass es genüge, eine Auswahl bestimmter Werte und Normen einfachhin zu unterrichten und so die Schüler:innen in das gesellschaftliche Leben zu integrieren (vgl. Wertformative Ansätze, z. B. Charaktererziehungsprogramme im Beitrag „Basics | Überblick zu Positionen der schulischen Moral- und Demokratieerziehung„). Folglich könnte man sagen, dass eine reine Werteerziehung als problematisch anzusehen sei, da die Werte, die innerhalb von Werterziehungsansätzen vermittelt werden sollen, nicht zuvorderst zur Verhandlung anstehen, sie sind erst einmal gesetzt.
Politische Bildung und politische Urteilskraft
Wie beim organisationstheoretischen Ansatz würde sich dann zum Beispiel die Demokratie durch die Demokratie selbst erklären. Dies wiederum würde außerdem dazu führen, dass Werte nur an Schüler:innen weitergegeben werden würden, was ihren Ansprüchen als „autonome Subjekte“ (Torkler 2015, S. 46) aber widerspreche.
Der zweite Punkt, der mit dem ersten zusammenhängt, ist der Aspekt der Pluralität. Bildung impliziert ein bestimmtes Verhältnis zu dem oder den Anderen, wobei diesen als Gleichberechtigen eine irreduzible Andersartigkeit zugestanden wird. In diesem Sinne bedeutet Bildung, „dass wir wissen: es gibt außer uns noch andere Mittelpunkte der Welt und andere Perspektiven auf sie. Andere sind nicht nur Teil meiner Welt, ich bin auch Teil der ihren. Gebildet ist, wen es interessiert, wie die Welt aus anderen Augen aussieht, und wer gelernt hat, das eigene Blickfeld zu erweitern.“ (vgl. Spaemann, Robert: Wer ist ein gebildeter Mensch? In: Hastedt, Heiner (Hrsg.): Was ist Bildung? Stuttgart: Reclam 2012,223-227, hier S. 224.)
Torkler, R. (2015). Bildung zum Anderen. Prae|faktisch.de.
Ein Staat, der sich selbst als freiheitlich begreift, kann seine Werte nicht einfach indoktrinieren. Und daher kann nach Torkler politische Bildung auch nicht bedeuten, dass Werte einfach vermittelt werden, sondern muss bedeuten, dass eine eigene Urteilsfindung der Schüler:innen möglich ist. Es sollte also keine Werteerziehung sondern eine Wertebildung der Schüler:innen sein.
Der Vorgang der Bildung als Erweiterung der eigenen Erkenntnis und der eigenen Perspektiven hin zu denen der Anderen, hänge unauflösbar mit unserer Urteilsfähigkeit zusammen, meint Torkler. Er bezieht sich hier auf Hannah Arendt, die darauf hinwies, dass wir uns durch die Erweiterung unserer Denkungsart zur Pluralität der Welt in Beziehung setzen und somit in die Lage begeben, ein Urteil zu fällen, dass mehr sei als eine bloße Privatmeinung (vgl. Torkler, R. (2015). Bildung zum Anderen. Prae|faktisch.de.).
In dieser Erweiterung unserer Denkungsart liegt also ein Weg, Egozentrismus zu überwinden, indem wir uns in den Standpunkt Anderer versetzen, ihre Perspektiven einzunehmen versuchen und so zu einem immer differenzierteren Bild der Wirklichkeit gelangen. Dieses Projekt ist freilich nicht abschließbar; es handelt sich dabei Kant zufolge um eine Maxime des „gemeinen Menschenverstandes“ und auch hier lässt sich erkennen, dass wir es eher mit einer Haltung als mit einem konkret erreichbaren, gar evaluierbaren Zustand zu tun haben.
Torkler, R. (2015). Bildung zum Anderen. Prae|faktisch.de
Und dabei gehe es letztlich, schlussfolgert Torkler, um die Vermittlung zwischen Eigenem und Anderem:
„Wenn ich Andere beim Urteilen berücksichtige, heißt das nicht, daß ich mit dem ihren übereinstimme. Ich spreche immer noch mit meiner eigenen Stimme und zähle nicht Stimmen ab, um zu dem zu kommen, was ich für richtig halte. Aber mein Urteil ist auch nicht mehr in dem Sinne subjektiv, daß ich zu meinen Schlußfolgerungen nur komme, indem ich mich selbst berücksichtige.“ (vgl. Arendt, Hannah: Über das Böse. Eine Vorlesung zu Fragen der Ethik. München: Piper 2006, hier S. 142.)
Torkler, R. (2015). Bildung zum Anderen. Prae|faktisch.de.
Hannah Arendt: Freiheit und Politik
Text: Liv Brunner (2022)
Bild: School cartoon vector created by vectorjuice – www.freepik.com
Textgrundlage:
Torkler, René (2015). Philosophische Bildung und politische Urteilskraft. Hannah Arendts Kant-Rezeption und ihre didaktische Bedeutung. Freiburg: Alber.
Torkler, René (2015). Bildung zum Anderen. Prae|faktisch.de. Online verfügbar: https://www.praefaktisch.de/bildung/bildung-zum-anderen/
[1] „Klafkis kritisch-konstruktive Didaktik“: https://service.zfl.uni-kl.de/wp/glossar/kritisch-konstruktive-didaktik
[2] Stangl, Werner. “Just Community” (2022). <https://lexikon.stangl.eu/18558/just-community>