Annes Entscheidung – Ernährungsgewohnheiten in der Familie ethisch reflektieren
Die Raumwirksamkeit des Umgangs mit Tieren im Anthropozän
Der Umgang des Menschen mit der Natur und mit Tieren hat mittlerweile Folgen globalen Ausmaßes. Die Zerstörung der Ökosysteme bedingt den Klimawandel, dessen Folgen wir bereits wahrnehmen können. Krankheiten wie SARS, MERS oder Covid-19 sind darauf zurückzuführen, dass Erreger von (Wild-)Tieren auf Menschen übergegangen sind, was sowohl auf Tierhaltung und -handel als auch auf die fortschreitende Ausbreitung des menschlichen Lebensraumes ein kritisches Licht wirft. Daneben ist unser Fleischkonsum ein Motor des Klimawandels.
„Haltung und Verarbeitung von Tieren machen laut UN-Ernährungs- und Landwirtschaftsorganisation 14,5 Prozent der weltweiten Treibhausemissionen aus.“(Esslinger 2021) Klimawandel, immense Tiernutzung und Pandemierisiko stehen dabei in einem unmittelbaren Zusammenhang. Angesichts dieser globalen Herausforderungen erscheint es unumgänglich, dass wir unser Verhältnis zur Natur und zu Tieren überdenken müssen. Auch wissenschaftliche Erkenntnisse zu den Fähigkeiten von Tieren fordern ein Umdenken heraus, denn „trotz hervorragender Forschung zum menschlichen und tierischen Verhalten in den vergangenen 50 Jahren beeinflusst das veraltete Bild über das Tier, welches nur auf Reize reagiert, nach wie vor unser Handeln“ (Otterstedt 2012). Ein Nachdenken über das Mensch-Tier-Verhältnis besitzt also starke Relevanz über schulische Kontexte hinaus. Das Thema erscheint zunächst vordringlich als ein Thema des Ethikunterrichts im Bereich der angewandten Ethik – allerdings erscheint es dringlich vor dem Hintergrund des gewaltigen Ausmaßes der Raumwirksamkeit menschlicher Handlungen in Bezug auf das Verhältnis zu Tieren es auch im Geographieunterricht zu behandeln.
Unterrichtsbeispiel „Annes Entscheidung“
Im Dilemma „Annes Entscheidung“ über die Ernährungsgewohnheiten in eienr Familie werden hedonistische Eigeninteressen sowie interpersonale und moralische Normen respektive Wertvorstellungen und gesetzliche Vorgaben thematisiert:
- hedonistische Eigeninteressen sind sowohl aufgrund des Interesses der Kinder gegeben, von der Mutter in ihrem eigenen Sinne ohne eigenen Aufwand mit Lebensmitteln versorgt zu werden, andererseits auch auf Seiten der Mutter in ihrem Interesse daran Gefühle der Unlust im Zusammenhang mit selbst gesetzten moralischen Verpflichtungen und biographischen Erfahrungen zu vermeiden (s. altruistische Gefühle);
- moralische Verpflichtungen beziehen sich einerseits auf tierethische Überlegungen, andererseits auf interpersonale Verpflichtungen, wie sie zwischen Eltern und Kindern gegeben sind (z. B. Gehorsam und Respekt in Autoritätsbeziehungen; Solidarität und Loyalität zwischen Geschwistern; Rechte und Pflichten im Umgang mit dem zur freien Verfügung stehenden Geld wie Taschengeld);
- altruistische Gefühle spielen in Form des Mitleids eine Rolle, sowohl auf der Seite der Mutter als auch auf der Seite der Kinder;
- gesetzliche Vorgaben sind mit Blick auf die Rechte und Pflichten von Eltern gegenüber ihren Kindern sowie Tierrechten vertreten.
Mit Blick auf das Dilemma ist schnell ersichtlich, dass auf unterschiedlichen Kohlberg-Stufen stimmig argumentiert werden kann, je nachdem, welcher Norm respektive welchen Interessen der Vorzug gegeben wird. Zudem ist die Position, die eingenommen wird, auch insofern abhängig von Wissen und einer damit verbundenen angeeigneten Haltung, als nicht selbstverständlich angenommen werden kann, dass alle der Auffassung folgen, dass die Interessen von Tieren als fühlenden Wesen moralisch zählen. Auch wenn Tierrechte in Ländern wie Deutschland oder der Schweiz verfassungsmäßig geschützt sind, wird in den entsprechenden Tierschutzgesetzen dem Menschen zugleich eine Sonderstellung hinsichtlich Nutzungsrechten von Tieren eingeräumt (vgl. § 2a im deutschen Tierschutzgesetz). Ganz offenkundig sind je nach der Position, die man einnimmt, die beiden zitierten Passagen nicht stimmig miteinander vereinbar, da vernünftige Gründe, innerhalb derer Menschen Tieren als Mitgeschöpfen Schmerzen, Leiden oder Schäden rechtmäßig zufügen können, der abwägenden Person nicht zugleich als moralische Gründe gelten müssen. Ein gelungenes Dilemma vereint also auf mehreren Ebenen einander – je nach Perspektive der Betrachtung – mehr oder weniger widersprechende Werte und damit verbundene Normen (Gesetze, moralische Normen, weitere soziale Normen wie Konventionen) und abhängig vom Standpunkt der Betrachterin oder des Betrachters werden die darin enthaltenen moralischen Spannungen als mehr oder weniger schwerwiegend empfunden.
In der Dilemmageschichte „Annes Entscheidung“ finden sich vielfache Bezüge auf interpersonale, juristische, moralische, philosophische, auch biologische und soziologisch-kulturelle, auch historische Aspekte, die innerhalb einer Unterrichtssequenz in begründeter Auswahl ihren Platz finden müssen, um das Dilemma so diskutieren lassen zu können, dass durch die innerhalb der Dilemmadiskussion vollzogenen „Erfahrungsprozesse […] das aktive Denken herausgefordert wird und dass dieses Denken, das Reden und das Interagieren in höhere Stufen überführt wird. […] Lernen steht hierbei für die Veränderung bestehender Wahrnehmungs- und Erklärungsmuster in Richtung auf ein umfassendes Verstehen durch die aktive Auseinandersetzung des Einzelnen mit seiner Umwelt“ (Schuster 2001, 179).
An philosophisch-ethischen Theorien werden Schopenhauers Mitleidsethik, utilitaristische Positionen zu Tierethik und Fragen zum Personenstatus von Tieren berührt, Anwendungsfragen beziehen sich u. a. auf Tierversuche, die Herstellung und den Konsum von Tierprodukten, welche wiederum auch ökonomische und ökologische Facetten haben und ebenso aus einer Raumperspektive heraus als globale Geographien der industriellen Tierproduktion betrachtet werden können. Wie nun u. a. ausgewählte philosophische, soziologische, geographische Theorien und empirische Beispiele miteinander verwoben werden, wie sie innerhalb der Sequenzplanung altersgemäß rhythmisiert und welche Unterrichtsmethoden hierfür eingesetzt werden, all diese Fragen sind vor dem Einsatz einer Dilemmadiskussion zu klären. Nicht zuletzt deswegen, weil die Methode innerhalb des Unterrichts starke innere und äußere emotionale Effekte hervorbringen kann und soll und sich deshalb auch außerhalb der reinen Diskussion unterstützende und herausfordernde Unterrichtsphasen abwechseln sollten.
Im Geographieunterricht bietet sich die Dilemmadiskussionsmethode besonders für die Auseinandersetzung mit aktuellen gesellschaftspolitischen Herausforderungen an, wie dem Umgang mit den Folgen des Klimawandels, der internationalen Migration und der gesellschaftlichen Polarisierung von politischen Positionen im Zusammenhang mit raumbezogenen Fragestellungen. Diese Themenfelder werfen eine Vielzahl von Sachfragen und ethischen Fragen auf, wie sie neben dem Geographieunterricht auch in Politik-, Sozialkunde-, Geschichte und Ethik- respektive Philosophieunterricht behandelt werden.
Die Dilemmadiskussion als Förderinstrument
Die kognitiv-konstruktivistischen Ansätze in der Moralpsychologie und Moralpädagogik basieren auf Lawrence Kohlbergs Forschung zur Entwicklung des Gerechtigkeitsurteils. Eines der zentralen Prinzipien dieser Ansätze besteht darin, dass Moral nicht einfach von Generation zu Generation durch die Übertragung von Wissen über Verhaltensstandards, Werte und Normen weitergegeben wird. Stattdessen konstruiere jede Person ihre eigenen Werte und Normen durch individuellen Konflikterfahrungen im Kontext sozialisatorischer Rahmenbedingungen. Die Grundthese der Forschung zur moralischen Urteilsfähigkeit besagt, dass durch moralische Konflikterfahrungen die bisherigen Beurteilungsstrategien in Frage gestellt werden. Um ihr Selbstkonzept wieder ins Gleichgewicht zu bringen, muss eine Person ihr wertbezogenes Denken und ihre Argumentationsmuster neu organisieren. Kohlberg betrachtet diese Entwicklung als linear, wobei Personen mit steigender Urteilsfähigkeit immer mehr Perspektiven berücksichtigen können, bis sie allgemeingültige Gerechtigkeitsurteile fällen können. Für die Förderung moralischer Urteilskompetenz im Sinne der Piaget-Kohlberg-Tradition (vgl. Kapitel 4.2) ergeben sich für ethische Bildung im Geographieunterricht die folgenden Aufgabenfelder (vgl. Applis 2012):
- Bereitstellen von Möglichkeiten für konstruktive diskursive Auseinandersetzungen zur Förderung moralrelevanter Kompetenzen wie Perspektivübernahme und Empathiefähigkeit etc.
- Sensibilisierung für das Erkennen von Situationen, in denen ethische Werte relevant sind durch die Auswahl von altersgerechten, Empathie anregenden Themen.
- Förderung des Erwerbs von Wissens über ethische Werte und Theorien
- Förderung von Sicherheit im Umgang mit philosophischen Argumentationsfiguren einzelner ethischer Konzepte (u.a. Prinzipienethik, Folgeethik, Anthropozentrismus, Biozentrismus).
Die Dilemmadiskussionsmethode bietet einen sicheren Rahmen für die Bearbeitung dieser Aufgabenfelder, indem sie ein themenbezogenes Konflikterleben erfahrbar macht, strukturiert begleitet und für individuelle und gruppenbezogene Bearbeitung öffnet.
Beiträge auf Doing Geo & Ethics zum Ablauf und Einsatz der Dilemmadiskussionsmethode und Unterrichtsbeispiel für die Oberstufe (Sek. II)
Die Dilemmadiskussion als Unterrichtsmethode – Hintergrund, Einsatz, geeignete Themenfelder
Die Dilemmadiskussionsmethode als Förderinstrument in den Kompetenzbereichen Beurteilung und Bewertung In der deutschen Geographiedidaktik wird die unterrichtliche Reflexion von wertorientierten Fragestellungen als eine zentrale Bildungsaufgabe gesehen (u.a. Haubrich 1994; Hasse…
Dilemmadiskussion | Bernd Weidler ist Produktionsprüfer bei einem großen Mobiltelefonhersteller
Bernd Weidlers Gewissenfrage Bernd Weidler ist Produktionsprüfer bei einem großen Mobiltelefonhersteller, in dessen Auftrag er Fabriken von Zulieferbetrieben in der chinesischen Millionenmetropole Chongqing (mit über 30 Mio. Einwohnern die bevölkerungsreichste…
Weitere Informationen zum Thema und Unterrichtsmaterial für die Unter- & Mittelstufe (Sek I.) auf Doing Geo & Ethics
Der Anthropozentrismus – Grundlegende Überlegungen zum Mensch-Tier-Verhältnis
Die Raumwirksamkeit des Umgangs mit Tieren im Anthropozän Der Umgang des Menschen mit der Natur und mit Tieren hat mittlerweile Folgen globalen Ausmaßes. Die Zerstörung der Ökosysteme bedingt den Klimawandel,…
Überlegungen zum Mensch-Tier-Verhältnis anstellen – Ein Unterrichtsvorschlag
Die Gemälde des Künstler Harmut Kiewert zeigen einen utopischen Raum nach einer Zeit der Massentierhaltung, in der Agrarfarmen industrielle Ruinenlandschaften sind, ebenso wie heute Kohleabbaugebiete. Tiere und Menschen sitzen beim…
Tierwohl erkaufen – Unterrichtmaterial für die Sek. I
Unterrichtseinheit für den Geographie- und Ethikunterricht in der Mittelstufe (alle Schularten) Die im Auftrag der Verbraucherzentrale Baden-Württemberg entwickelte Unterrichtseinheit ist geeignet für die Fächer Ethik und Geographie in der Sekundarstufe…
Text: Johanna Amthor & Stefan Applis (2025)
Bild: Freepik (2025)
Literaturangaben
Eßlinger, Laura (2021): Welche Verantwortung der Mensch für die Corona-Pandemie trägt. In: Deutschlandfunk, 30.03.2021 (https://www.deutschlandfunk.de/klima-tiere-zoonosen-welche-verantwortung-der-mensch-fuer.724.de.html?dram:article_id=494994, zuletzt aufgerufen am 17.07.2021)
Otterstedt, Carola (2012): Bedeutung des Tieres für unsere Gesellschaft. In: Aus Politik und Zeitgeschichte, Jg. 62 (2012), S. 14-15.