Bildungstheorien – Zur Unterscheidung materialer und formaler Bildungstheorien

Materiale Bildungstheorien operieren mit mehr oder weniger festen Wissensbeständen (idealtypisch in der sogenannten klassischen Bildung), deren Beherrschung, auch im Sinne einer inhaltlichen Durchdringung gleichgesetzt wird mit einem erfolgreichen Durchlaufen von Bildungsprozessen, wodurch eine besondere Qualifikation für ein nach der schulischen Bildung beginnendes Leben erworben werden soll.

Beitrag II: Grundlagen und Bedeutung Wolfgang Klafkis kritisch-konstruktiver Didaktik im Kontext des Globalen Lernens (Doing Geo & Ethics)

Die sogenannte Materialität der Bildungserwartungen findet sich z.B. in Listen von Autor*innen und bestimmter von ihnen verfasster Werke von denen angenommen wird, dass sie über ihre Zeit hinaus auf Elementares verweisen, weshalb ihre Kenntnis als unverzichtbar angesehen wird mit Blick auf ein bestimmtes (materiales) Bildungsverständnis. Als Folge davon entstanden und entstehen stark an Inhalten orientierte Lehrpläne, die auch einen gewissen Wettkampf zwischen Fächern in den Stundentafeln zur Folge haben oder auch Vorstellungen von Grundwissenskatalogen, die über Jahrgangsstufen hinweg anwachsen und auf die sich in der Regel dann bezogen wird, wenn bei Schüler*innen Lücken verzeichnet werden, die diese dann mit Verweis darauf, dass man die Inhalte ja schon behandelt habe, nachholen sollen. Materiale Bildungstheorien führen also immer Kanon-Fragen mit sich, Kanon-Fragen sind auch stets mit Ressourcenfragen verbunden und insofern konkurrenzorientiert, weil sie notwendig bestimmte Perspektiven einbeziehen und andere ausgrenzen.

Der vorliegende Beitrag findet sich ausführlich unter Einbindung von neuem Unterrichtsmaterial, das im Geographie-, Politik- oder Ethikunterricht eingesetzt werden kann, im folgenden Band: 

Formale Bildungstheorien setzen hingegen bei den heranwachsenden, sich entwickelnden und lernenden Subjekten an, indem sie fragen, wie objektive Anforderungen der gegenwärtigen und zukünftigen Welt von diesen bewältigt werden können, indem die Subjekte bestimmte Handlungs-, Verhaltensweisen und Einstellungen entwickeln. Formale Bildungstheorien können sich somit zum einen auf bestimmte Methoden und instrumentelle Fähigkeiten konzentrieren oder auf die Entwicklung der Funktionen des Lernens in den Subjekten. Hierzu wird wiederum das Beherrschen bestimmte instrumenteller Fähigkeiten als förderlicher angesehen als das Beherrschen bestimmter materieller Wissensbestände. Die Unterscheidung nach materialer und formaler Bildung wurde durch den Pädagogen und Didaktiker Wolfgang Klafki (Klafki 1959) vorgenommen, um in der Geschichte der Pädagogik entwickelte Bildungstheorien zu unterscheiden; selbstverständlich ist diese Unterscheidung idealtypisch und „real vorfindliche Bildungstheorien [sind] immer in der […] Bandbreite des Möglichen zu verorten, die Extreme findet man nur in der Konstruktion“ (Meyer & Meyer 2007, 33), weshalb vor allem zeitgenössische Bildungstheorien immer auch Elemente der Gegenseite enthalten, da weder instrumentelle Fähigkeiten noch materiale Inhalte für sich existieren: „Kompetenzen benötigen für ihre Entwicklung Inhalte. […] Formale Bildung ohne Inhalte wäre leer. Materiale Bildung, die nicht das sich bildende Subjekt formt, wäre blind“ (Meyer & Meyer 2007, 37). Die Unterscheidung von materialen und formalen Vorstellungen von Bildung ist also kein rein wissenschaftliches Gedankenspiel von universitären Pädagog*innen, Allgemein- und Fachdidaktiker*innen, die damit verbundenen Vorstellungen regieren tief hinein in alltägliche Praktiken in Schulen und sie bestimmen auch die bisweilen stark konfrontativ geführten Auseinandersetzungen über Unterrichts- und Schulentwicklung. Eine gute Kenntnis zentraler bildungstheoretischer und didaktischer Positionen ist also schon allein deshalb hilfreich, weil dadurch manches verständlicher wird, warum und wie diese auch im Rahmen der zweiten und dritten Phase der Lehrkräftebildung zwischen ausbildenden und aus- oder weitergebildeten Lehrkräften verhandelt werden.

Kategoriale Bildung als Verschränkung materialer und formaler Bildungstheorien

In der sogenannten didaktischen Analyse wird eine didaktische Interpretation und Strukturierung der Unterrichtsinhalte vorgenommen. Vereinfacht formuliert schlägt Klafki vor, dass sich Lehrkräfte die Frage stellen, ob sich das, was sie sich vornehmen zu behandeln aus Perspektive der Schüler*innen überhaupt lohnt (vgl. u.a. Klafki 1962, 14ff.). Um dies zu ergründen, formuliert Klafki sinngemäß die folgenden fünf Grundfragen:

  • Gegenwartsbedeutung: Welche Bedeutung hat der betreffende Inhalt im geistigen Leben der Kinder, Jugendlichen, jungen Erwachsenen in der Klasse oder Lerngruppe, in der ich unterrichte? Welche Bedeutung sollte er aus pädagogischen und/oder bildungsbezogener Perspektive haben?
  • Zukunftsbedeutung: Welche Bedeutung kann oder soll der zu behandelnde Inhalt in der nach- oder außerschulischen Zukunft haben?
  • Struktur des Inhalts: Was ist der strukturelle Kern oder Gehalt des Inhalts unter Berücksichtigung von Gegenwarts- und Zukunftsbedeutung?
  • Exemplarische Bedeutung: Welchen allgemeinen Sachverhalt, welches allgemeine Problem, das über den konkreten Inhalt hinaus verweist, erschließt der zu behandelnde Inhalt?
  • Zugänglichkeit: Welche besonderen Fälle, Phänomene oder Situationen, in denen der zu behandelnde Inhalt anschaulich wird, sind für die Kinder, Jugendlichen, jungen Erwachsenen meiner Klasse unter Bezug auf ihre Bildungsstufe, Herkunftsmileus etc. besonders interessant, fragwürdig, zugänglich? 

Klafki geht in seinen Überlegungen zur Strukturierung eines bildungsrelevanten Inhaltes zunächst vom Lehrplan aus, davon, dass bereits die Personen, die den Lehrplan gestaltet und inhaltlich vorstrukturiert haben, sich Gedanken über den Bildungsgehalt gemacht haben, vor allem mit Blick auf Gegenwarts- und Zukunftsbedeutung der Inhalte. Warum bedarf es dann trotzdem noch der didaktischen Analyse durch die unterrichtende Lehrkraft?

Lehrpläne bestanden und bestehen auch heute noch in der Regel aus Listen von Inhalten (im Ethikunterricht z.B. Philosoph*innen und Werke, Gerechtigkeitskonzepte, psychologische und soziologische Theorien, Lebensweltkonzepte von Schüler*innen unterschiedlicher Altersstufen wie Familie, Freundschaft, Partnerschaft etc.), auch wenn diese mit der Überwindung der Lernzielorientierung in fast allen Bundesländern stark reduziert sind und gegenüber Kompetenzformulierungen zurücktreten. Dennoch bleiben die inhaltlichen Konzepte überwiegend abstrakt. So lässt sich Freundschaft in verschiedenen Altersstufen unterschiedlich strukturieren, können Familie- und Partnerschaftsverhältnisse mit Blick auf unterschiedliche Lebenssituationen in Abhängigkeit von Alter und Herkunft der Schüler*innen nach unterschiedlichen Hinsichten reflektiert werden. Wenn sich in Lehrplänen etwa die Friedensschrift Immanuel Kants in einer neunten Jahrgangsstufe findet, wird man weder Kants Schrift im Ganzen lesen, noch sie auch nur ausschnittsweise ohne Bezug auf die Lebenswirklichkeiten der Gruppe, mit der man arbeitet, behandeln können. Klafki fasst die zu berücksichtigen Perspektiven folgendermaßen zusammen:

„Jene Bildungsinhalte also, die dem Lehrer in der Gestalt des Lehrplans sich darbieten, und deren Bildungsgehalt (oder Bildungswert) es in der ‚didaktischen Analyse‘ aufzuspüren gilt, müssen als eine in bestimmten geistig-geschichtlichen Situationen und im Blick auf bestimmte Kinder (Lebenskreise, Schulformen, Bildungsstufen) getroffene Auswahl verstanden werden. Die Lehrplangestalter nehmen an, dass diese Inhalte, wenn die betreffenden Kinder oder Jugendlichen sie sich zu eigen gemacht haben, den jungen Menschen dazu befähigen werden ins ich und zugleich im Verhältnis zur Welt ‚eine gewisse Ordnung‘ […] herzustellen, ‚Verantwortung zu übernehmen‘ […], Lebensnotwendigkeiten zu bewältigen und freie Lebensmöglichkeiten zu ergreifen. Die Bildungsinhalte sollen solche Ordnungsmöglichkeiten, Verantwortungen, unausweichliche Lebensnotwendigkeiten und freie Lebensmöglichkeiten repräsentieren, und das heißt zugleich: den jungen Menschen für Ordnungen (etwa rechtliche, soziale, sittliche), Verantwortungen (etwa mitmenschliche, politische) Notwendigkeiten (etwa die Beherrschung der sogen. Kulturtechniken, eines Mindestmaßes an lebendigem Wissen usf.), freie geistige Möglichkeiten […] [öffnen]. Solche Erschließung, solches Offenmachen für Inhalte und Werte können die sogenannten Bildungsinhalte nur leisten, weil ihnen ein besonderes Wesensmerkmal eigen ist: Es charakterisiert einen Bildungsinhalt, dass er als einzelner Inhalt immer stellvertretend für viele Kulturinhalte steht; immer soll ein Bildungsinhalt Grundprobleme, Grundverhältnisse, Grundmöglichkeiten, allgemeine Prinzipien, Gesetze, Methoden sichtbar machen. Jene Momente nun, die solche Erschließung des Allgemeinen im Besonderen oder am Besonderen bewirken, meint der Begriff des Bildungsgehaltes. Jeder besondere Bildungsinhalt birgt in sich also einen allgemeinen Bildungsgehalt.“

(Klafki 1958/1963, S. 133f.)

Die didaktische Analyse

Klafki verortet den Maßstab zur Freilegungsarbeit am Bildungsgehalt eines Bildungsinhaltes in drei Prinzipien (vgl. im Folgenden Meyer & Meyer 2007, 39ff.; Jank & Meyer 2021, 220ff.): Das Elementare, das Fundamentale und das Exemplarische:

  • Das Exemplarische verweist auf die Herausforderung der Auswahl eines Unterrichtsinhaltes mit Blick auf seinen Bildungsgehalt; exemplarisch, also beispielhaft kann ein behandelter Fall, etwa am oben bereits genannten Thema der Freundschaft ja nur dann sein, wenn er sowohl etwas Allgemeines behandelt, an das die Schüler*innen anschließen können auf Grundlage ihrer eigenen besonderen Erfahrungen, als auch zugleich etwas Spezifisches enthält, das den Fall auf eine besondere Weise strukturiert, wodurch zugleich auch über jede konkret gemachte Freundschaftserfahrung, an denen es innerhalb einer Lerngruppe ja sehr verschiedene geben wird, hinausverwiesen wird, so dass der konkret-allgemeine Fall einen besonderen Bildungsgehalt entfalten kann.
  • Der Fall muss also ein allgemeines Prinzip erfahrbar machen, etwas Allgemeines aufdecken und in diesem Sinne elementar sein. Am Beispiel der Freundschaft als Thema im Ethikunterricht könnten dies die drei Arten der Freundschaft nach Aristoteles sein (Freundschaft des Nutzens, der Lust und vollkomme Freundschaft).
  • In der Behandlung des exemplarischen Unterrichtsinhaltes, der ein elementares Prinzip entfaltet, muss es mithin zu Lern-Erfahrungen oder Lern-Erlebnissen kommen, die Klafki als fundamental bezeichnet, womit zugleich auf den Inszenierungscharakter von Unterricht verwiesen wird und auf die prozesshafte Strukturen des Lehren und Lernens als praktische Tätigkeiten.

Kategoriale Bildung (Applis 2024 unter Bezug auf Meyer & Meyer 2021, 41)

Bildende Unterrichtsprozesse respektive bildendes Lernerleben entfaltet sich also in den Aspekten des Exemplarischen, Elementaren und Fundamentalen, wobei die Begriffe nicht trennscharf verwendet werden von Klafki, sondern den Versuch darstellen das Problem von verschiedenen Seiten her zu erhellen. Ganz entscheidend für den Bildungsprozess sind Unterrichtsmethoden, die kognitive und affektive Aspekte als Facetten ganzheitlicher Lernprozesse ermöglichen und auch deren Reflexion begleiten. Als Beispiele hierfür können verschieden Unterrichtsmethoden und Unterrichtsinhalte, die innerhalb der vorgelegten Fachdidaktik vorgestellt und reflektiert werden, gelten . So zielt etwa die Mystery-Methode auf die Förderung der Fähigkeit zum systemischen Denken ab, um so das Vermögen zu steigern, relevante komplexe gesellschaftspolitische Fragestellungen in mehreren Dimensionen (u.a. sozial, ökologisch, ökonomisch, politisch) unter Berücksichtigung vieler Perspektiven zu erschließen.

Die Mystery-Methode – Hintergrund, Einsatz, geeignete Themenfelder

Prozesse der Globalisierung werfen komplexe Verantwortungsfragen auf. Die Mystery-Methode aus dem »Thinking-Through-Geography«-Ansatz ist ein geeignetes Förderinstrument zu Bearbeitung solcher Fragestellungen. Seit den AGENDA 21-Beschlüssen werden auch in Deutschland Debatten um…

Ähnlich wie bei der Dilemmadiskussion als Unterrichtsmethode werden in gehaltvollen bildungsrelevante Themenstellungen eine Vielzahl an moralischen und legalen Normen, interpersonalen Verpflichtungen, politischen oder ökonomischen Motiven sowie Motiven miteinander verwoben so dass sich im Exemplarischen das Elementare entfaltet; gleiches gilt für die Lebenslinienmethode. In seiner bildungstheoretischen Didaktik hatte Klafki noch bestimmte praxisbezogene Aspekte vernachlässigt wie Fragen der konkreten Unterrichtsgestaltung, der Berücksichtigung von Ergebnisse der empirischen Unterrichtsforschung auch mit Blick auf die methodische Gestaltung von Lehr-Lernprozessen auch unter Beteiligung der Schüler*innen. Meyer & Meyer (2021, 40) fassen Klafkis Verständnis des Bildungsprozesses in prägnanter Weise folgendermaßen zusammen :

„Der Bildungsprozess ist […] ein konkret identifizierbares Erlebnis, in dem sich das ganze (die ‚Welt‘) erschließt. Das lernende, noch nicht gebildete Subjekt (das ‚Ich‘) erschließt sich die Welt (die Inhalte, das ‚Objektive‘), aber nur dann, wenn es Fundamentales, Elementares und Exemplarisches entdeckt, erlebt und erfährt, dass dies für es selbst Bedeutung hat. Anders formuliert: Unterrichtsinhalte sind nur dann bildend und nicht nur eine enzyklopädische Anhäufung bloßen Faktenwissens, wenn sie den lernenden Subjekten Grunderfahrungen und grundlegende Einsichten vermitteln, die ihnen zugleich welterschließende Kategorien (Gedankenformen im philosophischen Sinn) an die Hand geben.“ (ebd.)

Meyer & Meyer (2021, 40

Der kategoriale Bildungsansatz ermöglicht nach Klafki ein Erschließen der Welt als Ganzes, indem sich im exemplarisch Konkreten das Allgemeine entdeckt, womit sich die Gegensätze zwischen Objektbezug (materiale Bildungstheorien; Bildungspläne, Lehrpläne etc.) und Subjektbezug (formale Bildungstheorien; Kompetenzentwicklung; Entwicklung von Haltungen, Orientierungen; Identitätsentwicklung) aufheben. Da nun Bildungsprozesse nur am Konkreten vollzogen werden können, das zugleich auf ein Allgemeines verweist, müsste nachgewiesen werden, worin genau dieses Konkrete bestehen soll. Aus der von Klafki vorgetragenen erkenntnistheoretischen Position heraus ist im Umkehrschluss vom Kategorialen zum Konkreten kein Curriculum an exemplarischen Fällen ableitbar (vgl. zur Diskussion des Problems Meyer & Meyer 2021, 61ff.). Eines aber kann mit Sicherheit festgestellt werden: Das Allgemeine ist für den Menschen nur in einem Konkreten entdeckbar, das ihm prinzipiell zugänglich ist, was uns auf Klafkis Forderung nach der Gegenwarts- und Zukunftsbedeutung des Bildungsinhaltes verweist.

Text: Stefan Applis (2024)

Bild: Bild von Freepik

Literaturempfehlungen

Meyer, H. & Jank (2021). Didaktische Modelle. Berlin.

Klafki, W. (1959). Das pädagogische Problem des Elementaren und die Theorie der kategorialen Bildung. Weinheim & Basel: Beltz.

Klafki, W. (2007). Neue Studien zur Bildungstheorie und Didaktik. Zeitgemäße Allgemeinbildung und kritisch konstruktive Didaktik. Beltz-Verlag: Weinheim & Basel.

Klafki, W. (1995). Zum Problem der Inhalte des Lehrens und Lernens in der Schule aus der Sicht kritisch-konstruktiver Didaktik – In S. Hopmann & K. Riquarts (Hrsg.) Didaktik und/oder Curriculum. Grundprobleme einer international vergleichenden Didaktik. Weinheim: Beltz 1995. S. 91-102. https://doi.org/10.25656/01:10001

Meyer, M.A. & Meyer, H. (2007). Wolfgang Klafki. Eine Didaktik für das 21. Jahrhundert? Weinheim & Basel: Beltz.