Thinking-Through-Methoden für den Unterricht in Geographie, Ethik, Geschichte, Politik und Wirtschaft
Schülerinnen und Schüler innerhalb selbst gesteuerter Lernprozesse begleiten
Der Thinking-Through-Ansatz wurde für das Unterrichtsfach Geographie in den 1990er Jahren von einem Team von Lehrkräften im Nordosten Englands in Zusammenarbeit mit David Leat, einem Professor an der Universität Newcastle entwickelt, zu dessen Arbeitsfeldern die Curriculum-Entwicklung und die Forschung zu Lehr-Lernmethoden gehört. Das pragmatische Ziel bestand zunächst nur darin, Geographieunterricht interessanter zu gestalten, indem man anspruchsvollere, die Lernenden stärker aktivierende und involvierende Lehr-Lern-Methoden entwickelte. Interessanterweise spielte der theoretische Hintergrund zur Aufgabenerstellung zunächst keine Rolle, was den Praktiker*innen entgegenkam – sie sollten die Aufgaben streng von der Frage her denken, welche Aktivitäten diese entfalten und ob die Aktivitäten interessant wären für die Beteiligten. So etablierte sich zeitgleich eine durchgehende Feedback-Kultur, weil die beteiligten Lehrkräfte ein Interesse daran hatten von den Schüler*innen zu erfahren, ob ihnen die Aufgabe, respektive Methode gefallen hatte und ob sie meinten, etwas Sinnvolles damit zu lernen. Auf diese Weise stellten Lehrkräfte und Schüler*innen gemeinsam fest, dass die Nachbesprechung nach der „Denk“-Aktivität der „wichtigste Teil des Unterrichts“ war, sofern die Aktivitäten die Schüler*innen zu besseren Lerner*innen machen sollten. In der Folge wurde Thinking-Through-Aktivitäten zunächst breit in das Geographie-Curriculum Großbritanniens aufgenommen, ehe sich andere Fächer anschlossen (z.B. Thinking-Through-History, Thinking-Through Religious Education, Thinking Through Ethics and Values in Primary Education).
Der Thinking-Through-Ansatz ist eine der didaktischen Leitlinien für kompetenzorientiertes Unterrichten in den folgende Lehrbüchern für Geographiedidaktik und Ethik-/Philosophiedidaktik:
Theoretischer Hintergrund von Thinking-Through– und Critical-Thinking-Ansätzen
David Leat lieferte den theoretischen Hintergrund erst nachträglich; er publizierte dann die Aufgaben und deren lerntheoretische Begründung unter Einbindung von Überlegungen zu schulinternen Aufgaben-Curricula in einem ersten Band (Leat 1990). Auf diesen folgte zehn Jahre später ein zweiter Band (Nichols & Kinninment 2001), in dem der Ansatz der Metakognitionen noch weiter ausgearbeitet wurde.
Der lerntheoretische Hintergrund liegt im Kognitivismus und im Konstruktivismus – der Thinking-Through-Ansatz rekurriert hierbei nicht explizit auf bestimmte formale Bildungstheorien, wäre aber – im Unterschied zu materialen Bildungstheorien – unter diesen einzuordnen, weil es vornehmlich darum geht, instrumentelle Fähigkeiten zu entwickeln und der Entwicklungsschwerpunkt auf dem lernenden Subjekt liegt (vgl. die Unterscheidung materialer und formaler Bildungstheorien bei Klafki). Insbesondere baute das Projekt auf den Erkenntnissen des Programms Cognitive Acceleration through Science Education (CASE) auf, das am King’s College in London entwickelt wurde, um die Denk- und Denkfähigkeiten der Schüler zu verbessern (Adey & Shayer 1994; Adey, Shayer & Yates 2001). In jüngerer Zeit erhielt der Thinking-Through-Ansatz durch die Ideen des kritischen Denkens (Critical Thinking) neue Anregungen; allen Ansätzen gemein ist, dass auch dem theoretischem Wissen der Lehrkräfte eine hohe Bedeutung zugemessen wird, da sie in der Lage sein müssen die Lernstrategien ihrer Schüler*innen einordnen zu können, um auch deren metareflexive Kompetenzen zu fördern und die Anforderungen der Aufgaben entsprechend anzupassen. Denn „der Schlüssel zu einem wirklich effektiven Einsatz dieses Ansatzes liegt im Verständnis und in der Fähigkeit, diese Theorie anzuwenden“ (Leat, 1998, 157, eigene Übersetzung). Leat versuchte hierbei ein gut nachvollziehbares Verständnis von Konstruktivismus und Kognitivismus zu entwickeln, um deutlich zu machen, weshalb dem strukturierten Einsatz von Denkstrategien im Unterricht eine so große Bedeutung zukommt. Eine Strategie besteht, kurz gefasst, darin, in Schemata oder Konzepten zu denken; im Wesentlichen handelt es sich hierbei um das, was Klafki in seiner kategorialen Analyse fasst, da es dabei um übertragbare begriffliche Denkschemata handelt, die auf mehrere Einzelfälle, bei Klafki das Exemplarische, angewandt werden können. Die zweite Hauptstrategie besteht im Hervorbringen kognitiver Konflikte, die dazu auffordern etablierte Denkschemata zu erweitern. Die dritte und vielleicht wichtigste Strategie sind die metakognitiven Reflexion oder verkürzt Metakognition. Leat bezieht sich hier auf die Forschungen von Lev Vygotsky (1934/2002) zum Zusammenhang von Denken und Sprechen bzw. das National Oracy-Project (Kemeny 1993) stützt, in dem die Wirkungen von lautem Denken und Zuhören im Unterricht als Lernstrategien untersucht wurden.
Die Förderung des kritischen Denkens als ein Denken, das Annahmen in Frage stellt, Voreingenommenheit untersucht, unterschiedliche Standpunkte einnimmt, begründete Argumente vorbringt und ethische Fragen untersucht ist in Großbritannien Bestandteil der sogenannten A-Level-Kurse im Fach Geographie, die auf den Zugang zu einem Universitätsstudium vorbereiten. Ein*e gute*r kritische*r Denker*in kennzeichnet hohe Aufgeschlossenheit für diverse Perspektiven, sie*er weiß, wie man Fakten von Meinungen trennt, wie man ein Thema von allen Seiten beleuchtet, wie man rationale Schlussfolgerungen zieht und wie man sich mit persönlichen Urteilen oder Vorurteilen zurückhält. Für die Geographie als Unterrichtsfach stelle sich mithin nicht die Frage, ob Geographie zu kritischem Denken beitragen kann, vielmehr verfehle das Fach ohne die Förderung kritischer Denkstrategien die zentrale Bedeutung, die in der geographischen Bildung liege.
Der Thinking-Through-Ansatz brachte eine Vielzahl an Methoden hervor, die es so zuvor noch nicht gegeben hatte und die zeitgleich auch nicht in ähnlicher Form in einem anderen Methodenhandbuch zu finden gewesen wären; das Projekt in Newcastle konnte also in Zusammenarbeit zwischen schulischer Praxis und universitärer Theorie und Praxis ein besonderes kreatives Potential zwischen den Beteiligten entfalten. Einige Beispiele für Thinking-Through-Methoden sind auf Doing Geo & Ethics zu finden (s.u.). Alle Methoden, die im Thinking-Through-Geography-Ansatz entwickelt wurden, folgen im Grundsatz vier Phasen:
- Vorbereitungsphase: Unerlässlich ist, dass eine Methode zur Förderung einer Denkaktivitäten mit den inhaltlichen Zielen einer Stunde übereinstimmt; die Lehrkraft muss sich also Aufklärung darüber verschaffen, mit welchen Aktivitäten welche inhaltlichen Ziele angesteuert werden sollen.
- Anfangsphase: Leat misst dem Beginn einer Lernaktivität besondere Aufmerksamkeit zu, weil die eingesetzten Thinking-Through-Methoden nach dem Einstieg weitgehend in ihrer Regelung an die Schüler*innen übergeben werden innerhalb des Rahmens, der die Lernaktivität(en) strukturiert; entsprechend muss in der Anfangsphase einerseits zum Thema hingeführt werden, in der Regel über eine kognitive Dissonanz, andererseits der Einstieg in den Arbeitsprozess gefunden werden.
- Durchführung der Lernaktivität: Da aus Sicht des Thinking-Through-Ansatzes ein Hauptgrund für den Einsatz von Denkaktivitäten innerhalb von Lernaufgaben darin besteht, die Entwicklung der Schüler*innen als professionel Lernende zu unterstützen, muss die Lehrperson gerade genug Unterstützung anbieten, um sie zu ermutigen, sich zu engagieren und zu lernen, aber nicht so viel, dass die Schüler*innen die Verantwortung wieder zurückgeben an die Lehrkraft; entsprechend kommt der Abbildung von Ziel-, Inhalts-, Handlungs- und Beziehungsstruktur innerhalb der Arbeitsmaterialien besondere Bedeutung zu. Der wichtigste Begriff hierzu ist der des Lerngerüsts, also der unterstützenden Maßnahmen, die innerhalb der Beziehungs-, Handlungs- und Zielstruktur erfasst werden können.
- Nachbesprechung der Lernaktivität: Die Nachbesprechung gilt Leat als der schwierigste, aber auch der wichtigste Teil der Lernaktivität . Die Lehrperson sollte auf Grundlage der Planung des Unterrichts bereits Fragen vorbereitet haben, die sich einerseits auf das Gelernte beziehen, auch das kritische Prüfen der Inhalte, andererseits auch dazu, wie gelernt wurde; der Kerngedanke der Metakognitionen ist, dass die Schüler*nnen durch das Verstehen ihres eigenen Denkens das Gelernte auf andere Situationen anwenden können.
Der Verdienst der Einführung des Thinking-Through-Ansatzes in den deutschsprachigen Raum kommt Stephan Schuler, Geographiedidaktiker an der PH Ludwigsburg zu. In der Zusammenarbeit mit dem Niederländer Leo Vankan, der mit Joop van der Schee und David Leat bereits eine niederländische Fassung erarbeitet hatte (vgl. Vankan 2003; Van der Schee, Leat & Vankan 2006), entstand das Projekt „Denken lernen mit Geographie“, dem sich weitere Fachdidaktiker*innen und Vertreter*innen der Lehrkräftebildung anschlossen (Schuler et al. 2013; Schuler, Vankan & Rohwer 2017). Es umfasste die auf Leats Ansatz basierende Entwicklung von kognitiv aktivierender Methoden und Aufgabenbeispielen für den Geographieunterricht, bei denen der Problemlöseprozess und seine metakognitive Reflexion eine große Rolle spielen; heute dürfen einige der innerhalb von zwei Praxisbänden publizierten Methoden (z.B. Mystery, Lebendiges Diagramm) als fest etabliert im deutschsprachigen Geographieunterricht gelten; einige davon wurden u.a. auch in den Didaktiken der Naturwissenschaften und der Geschichtsdidaktik aufgegriffen; heute gibt es für viele weiter Fächer Beispiele für die Umsetzung des Ansatzes, der von David Leat zunächst für das Fach Geographie entwickelt worden war.
Der Thinking-Through-Ansatz hat in der Geographiedidaktik vor allem die Forschung zum systemischen Denken befruchtet hinsichtlich der Frage, wie doppelt-komplexe Fragestellungen, die sich einerseits durch eine faktische, andererseits durch eine ethische Komplexität auszeichnen, im Geographieunterricht bearbeitet werden können. Bildungsinitiativen wie das Globale Lernen und die Bildung für nachhaltige Entwicklung sollen in diesem Zusammenhang Antworten auf die Frage bieten, wie Kinder, Jugendliche und junge dafür qualifiziert werden können, Verantwortung zu übernehmen für die Lösung der gegenwärtigen und zukünftigen Problemlagen. Die Forschung wendet sich hierbei einerseits kognitiven Kompetenzen zu und der Frage, wie komplexe Inhalte konzeptionell gefasst werden können (u.a. Rempfler & Uphues 2010; Fögele, Rempfler & Mehren 2020), andererseits volitionalen und motivationalen Aspekten und in diesem Zusammenhang der Frage, auf welche Weise soziale, moralische und demokratische Kompetenzen im Geographieunterricht gefördert werden können (u.a. Applis 2012; Hofmann, Applis & Mehreren 2019). Hierbei werden einerseits die Lernenden, andererseits die Lehrenden in den Blick genommen, um herauszubekommen, wie diese durch didaktische Konzepte und entsprechendes Unterrichtsmaterial am besten unterstützt werden können (Applis & Fögele 2014; Applis 2015; Applis & Fögele 2016; Applis 2016; Fögele & Mehren 2015).
Thinking-Through-Methoden auf Doing Geo & Ethics
Die Mystery-Methode – Hintergrund, Einsatz, geeignete Themenfelder
Prozesse der Globalisierung werfen komplexe Verantwortungsfragen auf. Die Mystery-Methode aus dem »Thinking-Through-Geography«-Ansatz ist ein geeignetes Förderinstrument zu Bearbeitung solcher Fragestellungen. Seit den AGENDA 21-Beschlüssen werden auch in Deutschland Debatten um…
Mystery | Digitale Endgeräte von zwei Seiten des Rohstoffkreislaufes her betrachten
Die Mystery-Methode aus dem „Thinking-Through-Geography-Ansatz“ (vgl. Leat 1998) wird im vorliegenden Beitrag zur Auseinandersetzung mit zwei Enden des Rohshtoffkreislaufes von digitalen Endgeräten vorgeschlagen. Mystery 1: Coltanabbau in der D.R. Kongo…
#SocialMedia-Kampagne #SaveJosh
Mystery-Methode zum Compassionate Use & Social-Media-Effekten in der Medizin Mystery zu einem medizinethischen Fall aus dem Jahr 2014, der als Kampagne erstmals eine Medikamentenfreigabe erwirkte, ohne dass das Medikament zugelassen…
#Mystery lösungsorientiert | Inseln – Fenster für die Zukunft
Inseln als Zukunftlabore Die besonderen Merkmale von Inseln, insbesondere ihre ökologische Verwundbarkeit werden immer wieder als Blick in die kontinentale Zukunft gedeutet. […] Inseln [können] auch im positiven Sinne einen…
Thinking-Through-Methoden auf Doing Geo & Ethics
Eine Fluchtgeschichte mit der Lebenslinienmethode nachvollziehen – Konfliktrohstoff Coltan als Auslöser von Migration
Zur Lebenslinienmethode und der Konstruktion moralischer Gefühle im inneren Bild Unterrichtsthemen zu ethisch relevanten gesellschaftlichen Entwicklungen wie internationale Migration sind Schülerinnen und Schülern oft fremd, weil sie dazu kaum auf…
Lebensliniendiagramm | Wie Akuas und Kitos Leben mit dem Rohstoffkreislauf von Elektrogeräten verbunden sind
Die Lebenslinienmethode: Mit einem Lebensliniendiagramm im Geographie- und im Ethik-/Philosophieunterricht arbeiten Die Lebenslinienmethode (engl. fortune lines) ist mit dem Ziel der Förderung von Beurteilungs- und Bewertungskompetenz verknüpft. Mit der Methode…
Wertequadrat | Sollen künftig mehr oder weniger Rohstoffe auf Grönland abgebaut werden?
Bei stabilen klimatischen Bedingungen wird der Verlust an Eismasse durch Schneefall wieder ausgeglichen. Doch auf Grönland ist das System dramatisch aus dem Gleichgewicht geraten. Die Lernmethode Wertequadrat folgt dem Leitprinzip…
Text: Stefan Applis (2024)
Bild: Freepik (2024)
Literaturempfehlungen
Applis, S. (2016). Geography teachers‘ concepts of working with Thinking Through Geography strategies – results of an empirical reconstructive study, International Research in Geographical and Environmental Education, 25:3, 195-210. https://doi.org/10.1080/10382046.2016.1155326
Applis, S. (2015). Analysis of Possibilities of Discussing Questions of Global Justice in Geography Classes. International Research in Geographical and Environmental Education 24(3), 273-285. https://doi.org/10.1080/10382046.2015.1034461
Applis, S. (2014): Die dokumentarische Methode als Forschungsansatz für die Geographiedidaktik im
Bereich des wertorientierten und Globalen Lernens – In: ZEP : Zeitschrift für internationale
Bildungsforschung und Entwicklungspädagogik 37 (1), 13-20. https://doi.org/10.25656/01:12094
Applis, S. & Fögele, J. (2014). Professionalisierung als Aufgabe der dritten Ausbildungsphase in der Lehrerbildung zur Umsetzung der Bildungsstandards: Theoretische, methodologische und empirische Herausforderungen für die fachdidaktische Forschung zur Qualifikation von Geographielehrkräften. Zeitschrift für Geographiedidaktik (ZGD), 42(3), 193–212. https://doi.org/10.18452/23985
Fögele, J., & Mehren, R. (2015). Empirische Evidenzen der Lehrerfortbildungsforschung und daraus resultierende Empfehlungen für die Geographiedidaktik. Zeitschrift für Geographiedidaktik (ZGD), 43(2), 81–106. https://doi.org/10.18452/23323
Fögele, J., Mehren, R., & Rempfler, A. (2020). Tipping Points – Schlüssel zum tiefgründigen Verständnis komplexer dynamischer Systeme bei Lernenden?. Zeitschrift für Geographiedidaktik (ZGD), 48(3), 83–100. https://doi.org/10.18452/22030
Kemeny, H. (1993). The National Oracy Project. In: Teaching History. National History Association. https://www.proquest.com/openview/b8024cd50f341d93296ed95a5dbfd8e1/1?pq-origsite=gscholar&cbl=1820977
Rempfler, A., & Uphues, R. (2010). Sozialökologisches Systemverständnis: Grundlage für die Modellierung von geographischer Systemkompetenz. Zeitschrift für Geographiedidaktik (ZGD), 38(4), 205–217. https://doi.org/10.18452/25540
Vygotskij, L.S. (1934/2002). Denken und Sprechen. Herausgegeben und aus dem Russischen übersetzt von Joachim Lompscher und Georg Rückriem. Weinheim und Basel.






